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„Ja, ich könnte tanzen“: Die vermutlich größte Lüge im deutschen Lobpreis

Lobpreis und Fangesang – Martin Scott hat sich beobachtet, im Gottesdienst und im Fußballstadion. Wo zeigt er mehr Begeisterung? Wo kochen die Emotionen über? Nachdem Martin seine Mannschaft angefeuert hat, ist er heiser, seine Gottesdienstbeteiligung beschreibt er als „brave Biedermeierveranstaltung“. Er versucht für Gott einen Kompromiss zu finden.

Neulich war ich in einem stark auf Lobpreismusik ausgerichteten Gottesdienst zu Gast. Irgendwo in Deutschland. Das Setting des Gottesdienstes ist schnell erklärt: fünf Lieder am Stück; eine Andacht in der Mitte; fünf Lieder am Stück – Amen. Irgendwo mittendrin dann der alte Klassiker: „Über die Berge und das Meer“ mit der musikalisch sehr hervorgehobenen Textzeile „Ja, ich könnte tanzen …“ (in der Bridge). Ich schweifte gedanklich ab. „Tanzen“ – da denke ich an „Freude“. Und wenn ich an „Freude“ und „Tanzen“ denke, dann bin ich ganz schnell beim Fußball.

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Schon als Kind und erst recht als Jugendlicher war ich permanent im Stadion. Ich war ein Hamburger Junge, begeistert von der Stadt und meinem HSV, und mit ca. 16 Jahren dann endlich, ausgestattet mit einer Dauerkarte für Block E, der Westkurve. Was habe ich da getanzt vor Freude, wenn ein Tor für die Rothosen fiel! Wie vielen bierversoffenen Menschen bin ich vor Freude um den Hals gefallen, wie ich meine Eltern mein ganzes Leben lang nicht umarmt habe, wenn wir im Pulk – selten, aber enthusiastisch – ein Tor der Hamburger feierten. Mit kräftiger, gesunder Stimme verließ ich samstags um 11:30 Uhr mein Zuhause und kehrte um 20 Uhr mit vollkommen heiserer Flüsterstimme zurück, nicht in der Lage, auch noch einen Piep von mir zu geben. Mein absolutes Highlight war, dass ich einmal mit meinem Freund Lars zusammen das mit 60.000 Menschen besetzte Volksparkstadion zum gemeinsamen „HSV, HSV“-Rufen animierte. Was waren wir stolz …!

„Denkerisch und glaubend war Gott meine Nr. 1 geworden – was meinen emotionalen Ausbruch anging, blieb es der HSV“

Mit 18 Jahren wurde ich dann Christ. Und landete bald in verschiedensten Gottesdiensten, vor allem in solchen, in denen eingangs benanntes Liedgut gesungen wurde. Von vorne wurde die Möglichkeit des unmittelbaren Kontakts mit Gott propagiert. Und ich wollte ihn: den direkten Draht nach oben, den heiligen Touch aus dem Himmel. Und weil dem so war, begann ich zu überlegen: Wenn Gott nun meine Nr. 1 sein soll, dann soll ihm auch mein stärkster emotionaler Ausbruch gerecht werden, meine größte Freude, mein ausdrucksstärkster Tanz, mein heftigster Lobpreis. Und fing dann an, mich zu beobachten, um schnell festzustellen: So „heftig“ war mein Lobpreis nun nicht. Gemessen an dem, was ich 14-täglich samstags im Stadion für den HSV ablieferte, war meine Gottesdienstbeteiligung sonntags eine brave Biedermeierveranstaltung. Denkerisch und glaubend war Gott meine Nr. 1 geworden – was meinen emotionalen Ausbruch anging, blieb es der HSV.

Bild: shutterstock / Vasyl Shulga

Man könnte nun denken, dass ich daraufhin „Tanzunterricht für Gott“ genommen hätte – ekstatisch, mit Ballettschuhen, hochemotional und leidenschaftlich, um meiner Freude über Gott Ausdruck zu verleihen –, ich machte es aber genau umgekehrt: refl ektierte mein Verhalten im Stadion, hörte auf, dort „Lobpreis“ zu machen, und wurde seitdem ein ziemlich stiller Stadionbesucher. Wenn ich schon nicht eruptiv für Gott Lobpreis machen konnte, so mein Kalkül, dann musste ich konsequenterweise meinen Fußball-Lobpreis so sehr runterfahren, dass Gott mein stärkster emotionaler Ausbruch blieb. Freude im Stadion und „Tanzen vor Gott“ – das sollte in meinem Leben zusammenpassen. Authentizität für mich ein höchst wichtiger Wert. Denn authentisch zu sein bedeutet: echt zu sein, wahrhaftig zu sein, aufrichtig zu sein; offen und ehrlich; so zu sein und so zu handeln, wie man wirklich denkt, wie man ist, eins zu eins aus sich heraus.

„Der Deutsche und Lobpreis – das scheint eine schwierige Gleichung zu sein“

Daher schweifte ich ab, neulich im Gottesdienst, als „Ja, ich könnte tanzen“ gesungen wurde. Ich dachte nach, über meine inneren Haltungen und Überzeugungen; und stolperte über die Textzeile „Ja, ich könnte tanzen“. Und wie immer schloss ich von mir auf andere und landete schlussendlich auf der Pointe, dass ich diese Textzeile als die vermutlich größte Lüge im deutschen Lobpreis erachte. Oder hat jemand jemanden in Gottesdiensten in Deutschland jemals tanzen sehen, während diese Textzeile gesungen wurde?

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Freude und Lobpreis für Gott zusammenzubringen, ist kein Kunststück. Lobpreis und deutsche Lobpreiser zusammenzubringen – das scheint mir die wahre Herausforderung zu sein. Deutschland, Land der frohen Tänzer?! Wohl eher noch immer das Land der Dichter und Denker, der konzentrierten, tiefgehenden Gespräche; das Land der vielen Konflikte, der stundenlangen Debatten, der Menschen, die wenig unterscheiden zwischen „Das mache ich mit mir aus“ und „Das mache ich mit dir aus“. Der Deutsche und Lobpreis – das scheint eine schwierige Gleichung zu sein.

Bild: pixabay

Da müssen die biblischen Vorlagen zum Worshippen für die deutsche Seele erst recht herausfordernd wirken. Stellvertretend für viele seien zwei Beispiele genannt:

Vom israelitischen König Saul heißt es, dass er eines Tages prophezeit bekommt, auf eine Gruppe von verzückten Propheten zu treffen, und dass Gottes Geist über ihn kommen wird und ihn selbst in Verzückung (in Ekstase) geraten lassen wird. Und so kommt es auch. Und „der Geist des HERRN“ kommt über Saul, und der eigentlich als depressiv-melancholische Griesgram verschriene König von Israel beginnt, in Trance zu tanzen und zu lobsingen. (vgl. 1. Sam. 10,5 ff.)

Von einem gelähmten Mann heißt es, dass er Tag für Tag am Eingang des Jerusalemer Tempels saß, um dort zu betteln. Eines Tages gehen die ehemaligen Jesus-Schüler Petrus und Johannes in den Tempel und somit an ihm vorbei. Statt, dass sie ihm Geld geben, sprechen sie ein Heilungswort über diesem Mann aus und proklamieren den Namen von Jesus Christus. Daraufhin sprang er „auf, konnte gehen und stehen und ging mit ihnen in den Tempel, lief und sprang umher und lobte Gott.“ (vgl. Apg. 3,1 ff.)

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Wenn der Geist des HERRN oder gar ein Wunder (an dir) geschieht und auch wenn nicht, dann spiel Gott ein Lied in deinem Herzen, spring und laufe umher, tanze, falle in Trance, raste voll aus! Solltest du aber als mitteleuropäischer, zivilisierter Lobpreiser mit der eingeforderten Extase permanent überfordert sein, kannst du mein Unbehagen sicher verstehen. Wenn zwischen dem, was wir singen, und dem, was wir empfinden immer ein deutlicher Riss bleibt – sind wir dann nicht letztendlich unglaubwürdige Glaubende oder zumindest unglaubwürdig Lobpreisende?

 

Fünf Ansätze, um den Riss kitten zu können:

  1. Wir brauchen den Heiligen Geist, Gottes unsichtbare Geistkraft, Gottes Energie, die eines Tages über uns kommt und uns keine anderen Chance lässt, als dass wir vor Freude tanzen. Frage an uns: Wären wir dazu bereit? Möchten wir das und möchten wir deshalb Gott darum bitten? Und ist die Gemeinde, zu der du gehörst, dazu bereit? Oder hast du nach deiner Tanzeinlage dann Hausverbot?

 

  1. Wir brauchen dringend andere Lieder, als solche, die von einer explosiven Freude und vom Tanzen und von der Glückseligkeit in Christus singen, seien die Lieder aus dem 16. oder aus dem 21. Jahrhundert. Wir brauchen Lieder, die authentisch zu uns, unserer Stimmung und unserer Kultur passen. Das ist eine Herausforderung für alle und vor allem für die, die Musik- und Gottesdienstverantwortung tragen. (Und, ja, es gibt solche Lieder!)

 

  1. Vielleicht brauchen wir auch andere Bilder für „Freude“ und „Tanzen“. Vielleicht können wir „Freude“ auch ersetzen – bloß, durch was?! Sind „Glück“ und „Zufriedenheit“ gute Ersatzwörter? Und ist es das, wovon die biblischen Protagonisten schwärmen, wenn sie in die Lobpreis-Trance verfallen? Ich habe den Verdacht, dass das keine Entsprechung darstellt.

 

  1. Wir müssen unterscheiden können zwischen einem zweiwöchentlich stattfindenden Gottesdienst mit viel Lobpreiselementen und (textlichen) Herausforderungen auf der einen Seite; und einem biblisch überlieferten einzigen Highlight im Leben einer bestimmten Person, von der wir vorher nicht all zu viel und hernach auch wieder nicht viel weiteres erfahren. Wir könnten uns nämlich genauso gut fragen, von wem alles nichts in der Bibel steht und wer alles zu den entsprechenden Zeiten kein Highlight erlebte. Ob der ehemals Gelähmte sein ganzes restliches Leben durch den Tempel tanzte, darf zumindest stark bezweifelt werden. Am nächsten Montag, so steht’s zumindest zwischen den Zeilen, ging er zu seiner Familie zurück und konnte erstmals in seinem Leben in der hauseigenen Klempnerei mitarbeiten … Man darf sich nicht verführen lassen von den Highlights der Bibel!

 

  1. Wir brauchen die Offenheit, uns anpiksen zu lassen, nach waschechter Freude über Gott und seinen Taten an uns in unserem Leben zu suchen. Denn wenn wir da keinen einzigen Grund finden, haben wir entweder ein emotionales Problem, oder aber vielleicht auch nichts entsprechendes mit Gott erlebt – was durchaus eine noch größere Frage aufwerfen dürfte. Wenn du also von einer „Freude“ hörst, die dich bestenfalls ins tanzen vor Gott führen könnte – was könnte dann für dich der Grund hierfür sein? Welche Dankbarkeit steckt in dir? Welches Glück hast du erlebt? Wie nah kommt dir das, was Gott für dich bereit hält? Wie überwältigend ist seine Gnade für dich? Wie heimatstiftend ist Gottes Gegenwart für dich?

 

Das sind sehr große Fragen, vor allem die letzten, und man kann sie unmöglich mal eben kurz beantworten. Wenn wir uns aber in Deutschland mit Freude auseinandersetzen, dann können wir das zumindest dazu nutzen, nach dem Grund zur Freude über Gott in unserem Leben zu suchen. Wir müssen ja nicht sofort tanzen – aber warum könnten wir es durchaus?

Für mich gilt: Ich könnte tanzen, weil Gott meinem Leben eine neue Richtung gegeben hat. Ich kam aus einem völlig chaotischen Leben mit einer ziemlich zerstörten Kindheit. Als Jugendlicher wirkte sich das insofern aus, als dass ich nun derjenige war, der störte und zerstörte. Als 18-Jähriger hatte ich noch so gut wie nichts gerissen, aber kaum noch Selbstachtung vor mir. Dann kam Gott in mein Leben und es passierten zwei Dinge: Ich fand ein Zuhause in dieser Welt, obwohl diese Welt für mich keines parat hatte; und ich fand Vergebung, die ich dringend nötig hatte, denn ich schämte mich für zahlreiche Negativ-Aktionen gegenüber meiner Familie, meinen Lehrern, meinen Mitschülern … eigentlich der gesamten Welt gegenüber.

Jedes Leben ist anders. Aber wenn Gott in dein Leben kommt, dann ändert sich etwas: dann könntest du tanzen. Welche Dankbarkeit hast du Gott gegenüber, was könnte dich – zumindest mal theoretisch – ins Tanzen führen?

Von Martin Scott


Dieser Artikel ist zuerst im Magazin DRAN NEXT erschienen, das wie Jesus.de zum SCM Bundes-Verlag.

 

 

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