Er ist Sänger, Radiosprecher, dreht Werbespots fürs Fernsehen und bringt nebenbei Bücher heraus. Es scheint kein Talent zu geben, mit dem Jens Böttcher nicht ausgestattet worden ist. Wir suchen nach der passenden Schublade für den Mann, der alles dafür tut, nicht in Schubladen gesteckt zu werden.
Köln, Westbahnhof, Quest-Bar – 19:10 Uhr. Während draußen der Regen auf den Boden prasselt, rauschen über unseren Köpfen im 10-Minuten-Takt die Züge vorbei. Drei Meter tiefer machen wir es uns in gedämpftem Licht, sanfter Musik und gemütlicher Atmosphäre bequem. Langsam füllt sich die Bar, letzte Töne des Soundchecks verstummen. Normalerweise der Zeitpunkt für Stars, sich geradewegs zum Hinterausgang zu begeben, um sich erst kurz vor ihrem großen Auftritt wieder auf der Bühne blicken zu lassen. Nicht so für Jens Böttcher, der sich mitten unter seine Gäste mischt: Freunde, Bekannte, Claqueure, Ü30-Singlefrauen. Die Gästeschar könnte bunter nicht sein.
Boettcher hat sich im Mittelpunkt des Pulks eingerichtet. Sein offener Blick verrät: Das Interesse ist echt. Trotz Stadtstreicherimage und Raucherstimme hinterlässt der raue Clochard durch seine greifbare Nähe einen unerwartet menschlichen Eindruck. Softie trifft es ganz gut. Einer der alternativen Art. Vereinnahmend. Positiv.
Jens betritt die Bühne. Der „deutschsprachige Gospelfolk“, wie er seine Musik selbst nennt, mag so gar nicht zu seinem Äußeren passen. Der lange schwarze Mantel, die strubbeligen Haare, sein vernarbtes Gesicht. Das alles erinnert vielmehr an das optische Beiwerk zu lauten Metal-Riffs. Stattdessen gibt es melancholische Popchansons, etwas verrotzt im markant kratzigen Tonfall. Jens Böttcher nimmt sich einfach von allem Etwas und vereint es in einer Person. Früher, so verrät er, hat er tatsächlich in ruppigen Rock- und Punkbands gespielt. Und ist froh, diese Zeiten hinter sich gelassen zu haben. Statt seinen eigenen Lebensschmerz in Töne zu gießen, will er mit seiner Musik jetzt Etwas bewegen: „Wir singen über Liebe. Gottes Liebe und die Liebe zueinander!“, betont Jens bei seinen Konzerten immer wieder. Schon seit 2001 prägt diese Liebe seine Musik, seine Bücher und deren Protagonisten. In seinem Debutroman „Steiner“ etwa, findet der planlose, verrückte Millionär Johannes Steiner seine Erfüllung zuletzt in Gott.
Ein wenig scheint das auch Jens’ Geschichte widerzuspiegeln, schließlich bezeichnet er sich selbst als einen „Sinn suchenden Menschen“. Diese Sehnsucht kann man auch in seinen ersten beiden Soloalben „Himmelherz“ und „Reisefieber“ wiederfinden. Metaphorische Liedzeilen wie: „Ich möchte gerne tiefer sein. Wie der Ozean.“, lassen unerfüllte Wünsche erkennen. Schließlich gibt es auch in Jens’ Leben dunkle Seiten, das meint man in seinen ehrlichen und intensiven Texten jedenfalls spüren zu können. Vor seinem Soloausritt hat er bereits zwei Alben mit Mark Rosenbrock veröffentlicht. Und rastlos arbeitet er gerade an einem neuen Album, das im Frühling erscheinen soll, und an drei neuen Manuskripten. Nebenbei spricht Jens auch noch für Hörbücher, fürs Fernsehen und im Radio. Was ihn so produktiv macht? Vielleicht ist es seine Kreativität, vielleicht der Missionsgedanke, vielleicht aber auch nur der leere Geldbeutel. Denn von der Idee, von seiner Kunst reich zu werden, hat sich Jens längst verabschiedet. Als kompromissloser Künstler wisse man schließlich nie, wo nächste Woche die Kühlschrankfüllung herkomme. Besonders beunruhigt scheint Jens dabei aber nicht zu sein. „Es ist eben auch eine Vertrauensübung!“
So wirkt es auch total natürlich, als wir uns für unser Interview mit Jens in einer Abstellkammer wiederfinden. In der Ecke rauscht die Lüftung, durch die Tür dringt gedämpfte Musik. Während wir es uns auf leeren Getränkekästen bequem machen, zündet sich Jens genüsslich eine Zigarette an und öffnet seine Flasche fachmännisch mit dem Feuerzeug. Dinge, die er offensichtlich auch nach 2001, dem Jahr seiner Bekehrung, nicht verlernt hat. Auch andere Dinge war er nicht bereit aufzugeben: In der linken Hand eine Zigarette, in der rechten ein Glas Wein haltend, spricht Jens von seinem Glauben. Dass sein Auftreten so gar nicht dem Einheitsbild eines Christen entspricht, stört am wenigsten ihn selbst.
Zigaretten, Alkohol und der Wunsch, auch als Christ individuell und frei bleiben zu wollen: Jens war zeitlebens ein rebellischer Junge. Als Jugendlicher brach er von einen auf den anderen Tag die Schule ab und wollte Punk sein, ohne zu wissen, was das eigentlich bedeutete. Die Außenseiterrolle – ein einkalkuliertes Risiko: „Ich wollte halt irgendwie anders sein.“ Die Rechnung ging nicht auf, Jens kehrte mehr und mehr in sich, sehnte sich nach Liebe. Dass es einen Gott gibt, der Wunder vollbringen kann und wohlmöglich auch in der Lage war, diese Sehnsucht nach Liebe zu stillen, bezweifelte Jens nie. „Aber ich hab’ nicht gedacht, dass das was mit mir zu tun hat.“
Christen wollte er immer möglichst weit von sich fern halten. „Ich dachte, in der Welt ginge es nur darum, dass jeder das Beste für sich will. Es kann kein Mensch vollkommen sein, auch kein Christ.“ Also waren Christen Heuchler für ihn. Und Lügner. Es dauerte fast sein halbes Leben, bis er vom Gegenteil überzeugt wurde. Und Gott seinen Finger in Jens’ Wohnzimmer hielt.
„Völlig irre und mystisch“ bezeichnet Jens’ die Szene, die sich eines Tages in seinen eigenen vier Wänden abspielte: Der amerikanische Prediger Bayless Conley schaffte es, den Eigenbrötler zu berühren – durch den Fernsehapparat. „Ich hab’ angefangen zu weinen und wusste, dass die Botschaft von Jesus für mich ist.“ Doch er wollte noch mehr, keine halben Sachen: „Ich habe gewusst, dass dieser Fernsehprediger mich tauft!“ Und da Jens zu dem Schlag Menschen gehört, die wirklich um die Dinge kämpfen, die ihnen wichtig sind, erscheint es nur als logisch, dass Bayless Conley zufällig kurz danach nach Deutschland kommt. Nach Hamburg um genau zu sein. In die Stadt, in der Jens wohnt. Also wäre eigentlich alles ganz einfach gewesen, gäbe es keine Regeln. Die deutsche Gemeinde, in der Conley zu Gast ist, schlägt Jens’ Bitte ab: Dass Conley Jens in Deutschland tauft sei nicht möglich, zu kompliziert.
Aufgeben? Niemals!
Und so kommt es, dass der Individualist eines Tages aus einer Hotel-Badewanne auftaucht – als Christ. Getauft von Bayless Conley. Ganz ohne Kirche, ohne Regeln. Irgendwie passt das ja auch viel besser zu ihm, als ein ganz normales Taufbecken. Die Wirkung ist aber dieselbe: „Ich bin aus dieser Wanne nicht als der gleiche Mensch rausgekommen, als der ich reingegangen bin. Er hat mich mit seiner Liebe berührt.“
Gottes Liebe. Von der spricht Jens fast so oft wie von der Freiheit, die er als Christ hat. Christsein heißt frei sein, sagt er. Und frei sein, heißt anders sein zu können – bei Jens ist das auf jeden Fall so. Mit den Dingen, die in der Gefahr stehen als „typisch christlich“ bezeichnet zu werden, will er nichts zu tun haben. Damit das auch jedem klar ist, betont er bei seinen Konzerten, dass er seine Musik keinen frommen Erwartungen anpassen will. Dass er keinem frommen Vokabular folgt. Was er deshalb nicht mag, sind Leute, die Gesetze machen, wo Freiheit hin gehört. Fundamentalisten nennt er sie, deren Grundlage nicht mehr die Liebe ist, sondern Regeln. Und die andere, die nicht nach diesen Regeln leben, verurteilen. „Doch darum geht’s überhaupt nicht.“, erklärt Jens noch mal: „Wir sind frei!“ Das Patentrezept für die Begegnung mit so einem Fundamentalisten und wie man ihm etwas von der Liebe erweist, die er braucht, hat Jens natürlich auch in der Tasche: „Wenn also“, ruft er seinem Publikum mit der markanten Stimme zu, von der er selbst sagt, dass sein ganzes Leben in ihr ist, „wenn also ein komischer Fundamentalisten-Christ vor euch sitzt, ladet ihn einfach zu einem Schnaps ein und erweist ihm auf diese Weise ein bisschen was von der Liebe, die ihr an ihm vermisst!“
(Quelle: jesus.de)