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Krawalle in Chemnitz: Was ist bloß los im Osten?

Liegt die Verantwortung für die Ausschreitungen in Chemnitz „nur“ bei einigen gewaltbereiten Rechtsradikalen? Oder ist es (auch) das Ergebnis von 40 Jahren DDR?

Ein Kommentar von Rüdiger Jope

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Die Bilder aus Chemnitz sorgten bei mir für einen Flashback: In der sächsischen Kleinstadt, in der ich bis vor einigen Jahren als Pastor tätig war, gab es 2010 das Ansinnen, einen offenen Jugendstrafvollzug einzurichten. Gebäude waren vorhanden, erste Gespräche mit der Stadt liefen. Dann griff die Presse das Thema auf. Am nächsten Morgen entdeckte ich bei meinem Bäcker neben Brötchen und BILD-Zeitung Unterschriftslisten. Die „Wutbürgerwelle“ rollte. Es brodelte im Ort.

Die Kommune und der Träger der Strafvollzugmaßnahme luden daraufhin zum Gespräch in die Stadthalle ein. Diese war bis auf den letzten Platz gefüllt. Die Stimmung war von Beginn an angespannt und feindselig. Unterbrochen von Zwischenrufen und Pfiffen wurde das Konzept vorgestellt. Dann wurde das Mikrofon zur Diskussion freigegeben. „Die sollen arbeiten, statt sich auf die faule Haut legen“, sächselte jemand. Ein Stimme hinter mir brüllte: „Zu DDR-Zeiten hätte es so was nicht gegeben, da hätte man die Kriminellen an die Wand gestellt.“ Der Nächste gab besorgt zu bedenken, dass man dann nicht mehr in Ruhe mit dem Hund oder zum Joggen in den Wald gehen könne. Eine Frau mittleren Alters betonte, dass jetzt auch mal etwas Geld für „die Bürger“ ausgegeben werden müsste.

Nach einer halben Stunde platzte mir (und vermutlich auch) dem ebenfalls anwesendem Superintendenten des Kirchenkreises innerlich der Kragen. Er ergriff als Erster mit einem positiven Beitrag zu diesem Projekt das Wort. Ich gab mir einen Ruck und stand ebenfalls auf. Mit zitternder Stimme plädierte ich für Solidarität, Nächstenliebe, eine zweite Chance, für ein Miteinander… Ich konnte meine Wortmeldung nicht beenden. Der Mob tobte. Ich sah in rote, wütende Gesichter. Ich wurde ausgebuht und niedergebrüllt. Zwei Männer sprangen auf, pfiffen ohrenbetäubend. Einer herrschte mich an: „Wo wohnst du?“ Eine Frau schrie: „Haut ab! Wir wollen hier nicht das Geschmeiße.“ Jemand fing an zu intonieren: „Wir sind das Volk!“

Der Jugendstrafvollzug in freien Formen kam nicht in diese Stadt. Wenn ich an diese Erfahrung vor neun Jahren zurückdenke, bekomme ich noch heute Gänsehaut. Ich hatte wirklich Angst um mein Leben und das meiner Kinder! Die feindliche Stimmung war bedrohlich. Und diese Bedrohung und Angriffe kam nicht von Rechtsradikalen, sondern aus der Mitte einer sächsischen Kleinstadt.

Was ist die Ursache für so viel ungezügelten und hemmungslosen Hass? Meine ganz persönlichen Erklärungsversuche:

1. Vierzig Jahre durfte man nicht die Klappe aufmachen. Wer es dennoch tat, verschwand von der Bildfläche, konnte seine Karriere knicken. Zivilcourage war nicht gefragt, konnte sich nicht in der Breite entwickeln.

2. Vierzig Jahre wurde Solidarität diktiert. Es galt solidarisch zu sein mit den sozialistischen Bruderländern, den Russen, den Kubanern… Doch diese geforderte Solidarität war keine eigene Entscheidung, sondern eine Entscheidung von oben.

3. Vierzig Jahre lang wurde das Thema Nationalsozialismus verdrängt. Eine kritische Aufarbeitung des Dritten Reiches wie durch die 68er in der Bundesrepublik gab es nicht. In der Schule wurde uns gelehrt: Die Nazis sitzen in der Bundesrepublik, die Guten sind in der DDR geblieben. Ich erinnere mich noch an ein Lesebuch, welches sinngemäß damit endete: Und wenn du jetzt die Elbe abwärts fährst, triffst du sie wieder, die „Herren Nazis“ von gestern.

4. Vierzig Jahre blutete der Mittelstand, das Bildungsbürgertum, im Osten aus. Hundertausende von Handwerkern und Mittelständlern wurden vor und nach dem Mauerbau vom DDR-Staat drangsaliert. Sie verließen Sachsen und Thüringen. Dieses Vakuum wird nun zum Bumerang.

5. Vierzig Jahre wurde von der Kinderkrippe bis in den Club der Volkssolidarität alles auf Kollektiv gesetzt. Jetzt ist sich jeder selbst der Nächste. Egoismus statt Kollektivismus ist hip.

6. Vierzig Jahre wurden die Fremden auf Distanz gehalten. Außer bei offiziellen Anlässen bestand ein Kontaktverbot zwischen Ausländern und DDR-Bürgern. Es bestand keine Chance auf die Entwicklung eines normalen Miteinander, eines unpolitischen Kennernlernens. Kritik, zum Beispiel an den Russen, war tabu.

7. Vierzig Jahre einseitige Lehre und Schwarzmalerei in Schule, Medien und Gesellschaft haben Spuren des Misstrauens und der Verunsicherung hinterlassen. Die Bildung durch das Fach Staatsbürgerkunde, den „Schwarzen Kanal“, das Neue Deutschland… Dies alles erweist sich als ungeeignet für die komplexen Herausforderungen in einer globalen Welt.

8. Vierzig Jahre konnte man – hinter vorgehaltener Hand – auf „die da oben“ schimpfen. Für die Mangelerscheinungen des Sozialismus ging der Blick immer Richtung Berlin. Diese unreflektierte Mentalität setzt sich in den Rufen „Merkel muss weg“ fort.

9. Vierzig Jahre wurde der Bankrott verschleppt. Flüsse und Felder waren vergiftet, Häuser und Straßen verkamen. Menschen mit Behinderungen wurden in kirchlichen Einrichtungen „entsorgt“. Es ist nicht alles gut geworden. Ja, und es gab Ungerechtigkeiten bei der Wiedervereinigung, aber das Jammern nach den „Fleischtöpfen in Ägypten“ ist das Heulen nach einer abgewirtschafteten Utopie.

10. Vierzig Jahre haben Volkspolizisten das Recht gebeugt. Ich erinnere mich an einen heulenden 50-Jährigen in der Seelsorge. Er hatte als Teenager mit Freunden eine rote Fahne runtergelassen und gegen ein Unterhemd ausgetauscht. Sie wurden für den Spaß (!) als Minderjährige von Vopos verdroschen, eine Nacht hinter Gitter gesperrt, von der Schule entfernt. Diese Respektlosigkeit und Kälte von Staatsorgangen schlägt heute auf jene zurück.

11. Vierzig Jahre lang wurden Posten nicht nach Fähigkeiten, sondern nach dem Parteibuch vergeben. Nach der Wende sicherten sich vielerorts die „Entscheidungsträger“ ihre Pfründe. Sie rutschten nur einen Sessel, ein Amtszimmer, eine Behörde weiter. Die „Vorwendeverlierer“ wurden so auch zu den „Nachwendeverlierern“.

12. Vierzig Jahre wurde die Kirche mit ihrem Werteangebot, der Nächstenliebe, die Tür zugehalten. „Ohne Gott und Sonnenschein fahren wir die Ernte ein“ tönte der Staatsratsvorsitzende Erich Honecker. Die gottlose Bilanz wird jetzt sicht- und hörbar in den Städten, Dörfern und Wahlergebnissen.

Wie sieht eine Lösung aus? Wir brauchen ein Reden und Zuhören. Wir brauchen Bürger, die zitternd aufstehen. Wir brauchen Politiker, die dorthin gehen wo es brennt. Wir brauchen einen Staat, der nicht wegschaut, sondern das Recht durchsetzt. Wir brauchen eine Bildungsoffensive. Wir brauchen eine Stärkung der Zivilgesellschaft, der Mittelschicht. Wir brauchen eine Kirche, die sich nicht zurückzieht, sich um sich selbst dreht, sondern Werte wie Solidarität, Nächstenliebe und Gottebenbildlichkeit (vor)lebt.

Rüdiger Jope ist gebürtiger Sachse und Chefredakteur des Männermagazins MOVO.

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