Im kirchlichen Start-up „UND Marburg“ dürfen alle mitmachen. Die Gemeinde organisiert sich selbst – ohne Pfarrer, Leitung oder Hierarchien.
epd-Gespräch: Stefanie Walter (epd)
„Wir sind ein soziales Start-up“, erklärte Mit-Initiator und Rektor der CVJM-Hochschule in Kassel, Tobias Faix dem Evangelischen Pressedienst (epd). Alle 14 Tage findet ein Gottesdienst im Marburger Lokschuppen statt – einem ehemals verfallenen Bahn-Gebäude, das zu einem modernen Veranstaltungszentrum transformiert wurde. „Am Beginn steht immer ein Kaffeetrinken.“ Im Gottesdienst gebe es eine „Reaktionszeit“, in der die Besucher auf die Predigt reagieren können. Das Predigtteam besteht aus 14 Leuten, die aber jeweils nur zwei Mal im Jahr predigen dürfen. „Wir verfolgen einen machtsensiblen Ansatz“, erläuterte Faix. Die Balance zwischen Männern und Frauen, jungen und älteren Predigenden sei austariert. Der Gottesdienst endet mit einem gemeinsamen Essen. An den anderen Sonntagen treffen sich kleine Gruppen an unterschiedlichen Orten in der Stadt: im Café, auf Spielplätzen oder in Häusern, um zu basteln, zu lesen oder zu reden.
Eine App als Kommunikationsmittel
„Wichtigstes Kommunikationsmittel ist eine App“, berichtete der Theologe. Verschiedene Angebote und Kleingruppen hätten sich gebildet – ein Leseklub, sozial-diakonische Angebote für Schüler mit Lernschwierigkeiten oder zur Unterstützung der Wärmestube für Obdachlose. Eine Gruppe habe, angelehnt an das Judentum, eine „Sonntagsbegrüßungsfeier“ ins Leben gerufen. Jeder Interessierte könne etwas beitragen. „Die Idee ist, dass Kirche kein Versorgerangebot macht, sondern die Gemeinde selbst mündig wird.“ Zu den Teilnehmenden gehörten viele queere Menschen, Familien mit jungen Kindern sowie Menschen mit Behinderungen.
In der App seien 1.000 Leute registriert. Zu den Gottesdiensten im Lokschuppen kämen regelmäßig rund 250 Teilnehmende, durchschnittlich 800 Menschen schauten sich die gestreamte Version im Internet an. „Nicht alles funktioniert“, räumte Faix ein. Das Angebot werde überwiegend von Ehrenamtlichen getragen, die von vier hauptamtlich Beschäftigten „supported“ würden. „Viele beginnen enthusiastisch und merken, dass es zu viel wird. Wir müssen noch lernen, Ehrenamtliche verantwortungsvoll zu begleiten.“
UND Marburg besteht seit 2020 und ist ein gemeinnütziger Verein innerhalb des Evangelischen Kirchenkreises Marburg. Sein Jahresthema für 2025 lautete „Wo ist unser Platz in Marburg?“ Man wolle sich vermehrt sozial in der Stadt einbringen, für die Demokratie eintreten und eventuell einen festen räumlichen Ort suchen. Am 26. und 27. Oktober veranstaltet „UND Marburg“ zum zweiten Mal das kreative Fest UNDspiration, unter anderem mit dem Songwriter Samuel Harfst und dem Schauspieler Samuel Koch.
Homepage: UND Marburg
Weiterlesen:
Ist doch alles „paletti“
Chey schreibt: Ich selbst nenne mich schon seit vielen Jahren nicht mehr Christ. War allerdings 25 Jahre lang sehr engagierter Christ. Allerdings fühle ich mich seit 1 Jahr wieder einer Glaubens-Gemeinschaft verbunden, der zumindest sehr viele Christen angehören. Ist also kompliziert.
Ich finde das gar nicht kompliziert, aber es ist doch schön sich so wieder anzunähern. Und nirgend steht geschrieben, Christinnen und Christen müssten vollkommen sein und hätten in allem nur eine Meinung. Mir sind die ehrliches Zweifler manchmal lieber als die irrtumslosen Gläubigen. Vielleicht stellen die Zweifler:innen auch öfters die richtigen Fragen, über die allzu oft nicht gesprochen wird. Kürzlich habe ich mich mit einem Freimaurer lange unterhalten, der auch genauso Christ ist und der irgendwie seine Gedanken und Fragen nicht in Ketten legt. Das tat richtig gut. Was ich gar nicht wusste: Er hatte erst vor einigen Jahren geheiratet und seine Frau bei den Freimaurern kennengelernt. Die nehmen schon seit einiger Zeit auch Frauen und verbergen sich nicht hinter ihren angeblichen Geheimnissen.
Doch, es ist kompliziert.
Ich war als Christ wohl oft Zweifler. Heute bin ich zweifellos Nichtchrist.
Was nicht bedeutet, dass ich nicht gut mit vielen Christen auskomme. Und nicht durchaus auch manche Gemeinsamkeit sehe.
Meine Kritik richtet sich vor allem gegen christliche Institutionen und solche Christen, die diese über die Menschen stellen.
Glauben selbst kritisiere ich in aller Regel hingegen nicht. Das ist jedem selbst überlassen, an was er/sie glaubt. Wer bin ich, das zu bewerten?
Es gibt auch gute ähnliche Ideen
Ich bin für eine Reform von Kirche/n, auch ständige (Re-)Formation, also auch inbegriffen die geistliche Seite der gesamten Angelegenheit. In der Urgemeinde ging es um Autorität, die durch das Dienen und nicht das Herrschen definiert wurde. Wir benötigen kirchliche Strukturen, die auch daran arbeiten nicht nur eine Komm-Struktur aufrecht zu erhalten, sondern auch eine Geh-Hin-Struktur praktizieren, also da anwesend zu sein, wo die meisten Menschen leben, arbeiten und ihre Freizeit verbringen. Dann kann Kirche auch für die neuen armen Menschen eintreten, also wir als Christ:innen können, insoweit wie nötig und möglich, mit ihnen auch den Alltag teilen. Es kann gerne auch Gemeinden existieren, die ohne jede Hierarchie oder sehr flache Hierarchien auskommen, aber insgesamt brauchen auch Glaubensgemeinschaften eine Struktur, ein Minimum an guten Regeln und ebenso solide Ausbildung der Theologen. Man darf gerne und überzeugt Freikirchler sein, aber ich würde für die großen Kirchen mir doch auch wünschen, dass neben solider Theologie auch eine solche der Verkündigung stattfindet. Die Urgemeinde hatte auch eine Struktur und diese wurden durch die Ältesten geleitet (die heute nicht mehr biologisch die Ältesten sein müssen und aus Frauen und Männern bestehen). Auch wünsche ich mir Kirche mit Gedankenfreiheit, in der man auch abweichende Überzeugungen pflegen darf und in der es selbstverständlich ist, Gemeinschaft zu haben und miteinander gut zu kommunizieren. Dann soll und muss auch jede Kirche demokratisch sein, die Institution bzw. Organisation der Kirche sollte die Menschen mitnehmen wollen und sich für Wünsche, Bedürfnisse und Problemen auch zuständig fühlen. Dass einer des anderen Last tragen soll, ist eigentlich eine gute Idee, die zwar fast jeder befürwortet, die aber (ehrlich) leider quer zu unserer Kultur des Individualismus steht. Vielleicht sollte nicht die Kirche oder Glaubensgemeinschaft insgesamt auf Hierarchien verzichten, aber ich könnte mir doch geistliche Kommunitäten mit sehr flacher Hierarchie (oder gar keine) durchaus sehr gut vorstellen. Früher gab es Missions(firmen), in der jeder Mitarbeitende das Gleiche verdiente, von der Raumpflegerin bis zum Professor. So etwas, oder evangelische Orden, können nur auf dem Prinzip von Freiwilligkeit beruhen und durch eine Tür durch die man bei uns kommt, muss es auch erlaubt sein wieder hinaus zu gehen. In den 1970 Jahren hatten Jesuiten die gute Idee, es könnte einmal – jenseits von Großkirchen mit ihrer Kirchensteuer – auch ganz viele kleine Gruppen von Menschen geben, die (nach Möglichkeit auch gemeinsam) ihren Glauben exemplarisch leben und dabei ökumenisch, offen sind für alle Menschen und wie Licht der Welt hier Inseln der Hoffnung. Nicht unsere Kirche sollte uns formen, sondern der Heilige Geist sollte Menschen in Liebe formen, die dies dann in der Gemeinschaft leben. Ich persönlich bin nicht davon überzeugt, dass Jesus mit der Beauftragung des Petrus für die Urgemeinde unsere heutigen sehr unterschiedlichen Formen von Kirchen im Sinne gehabt hatte.
Die Urkirche kannte keine Strukturen und es klappte gut. Warum nicht aus so etwas im Jahr 2024 ausprobieren.
Es gibt ähnliches bei vielen Worship-Events und da klappt es auch sehr gut.
Ich wünsche dem Team viel Erfolg!
Ich verstehe gerade den Vergleich von Worship-Events mit Gemeinde nicht. Können Sie das näher erläutern?
1.) es gibt nicht die eine einheitliche Urkirche sondern mindestens 2 große, teilweise entgegengesetzte Strömungen: Die petrinische (Judenchristentum) und die paulinische (Heidenchristentum).
2.) selbstverständlich gab es bereits damals gemeindliche Strukturen, evtl. sogar schon überregionale. In der christlichen Geschichte wurde gerade die sog. Urkirche (bzw. eine Idealisierung der Urkirche) als Rechtfertigung für Strukturen (und warum sie nicht geändert werden dürfen) herangezogen.
3.) Und wenn es so gut klappte, warum dann z.B. die Ermahnungen in den Paulusbriefen?
Da wird uns mal wieder etwas, was so ähnlich zig Gemeinden längst leben, als etwas total Neues und revolutionäres verkauft. Albern.
Was für die einen längst normal ist, ist für die anderen eben eine Revolution.
Ist ja beim Thema Frauen als Pfarrerinnen o.ä. auch nicht anders.
Ich denke, es ist wichtig, zu verstehen, dass Leiter- und Hierarchielosigkeit ein komplettes Umdenken der Glaubensgemeinschaft erfordert. Weg von dem Hirten-und-Schafe-Denken hin zu dem Verständnis, dass jeder Mensch gleich wichtig ist. Das hat dann auch Auswirkungen auf die vermittelte Botschaft.
Wenn du mal genauer den Text durchliest, ist das mit der Hierarchielosigkeit bei der Gemeinde auch nicht weit her.
Im Rahmen der EKD kann es richtige Hierarchielosigkeit auch nicht geben. Denn dann könnte sie z.B. keine Körperschaft öffentlichen Rechts mehr sein. Und was wäre mit den vielen Hauptamtlichen? Und der Verwaltung der Besitztümer?
Sie hat sich halt an Irdisches gebunden.
Aber im Kleinen ist es doch trotzdem nicht schlecht.
Fängt ja schon in den Gemeinden damit an, ob ein Hauskreis einen Leiter braucht und ob der Hauskreis dem Pastor/der Gemeinde rechenschaftspflichtig ist. Das ist ja schon für manche Gemeinden eine Überforderung an Hierarchielosigkeit, wenn es nicht so ist.
Alles selbst erlebt zu meiner christlichen Zeit.
„zu meiner christlichen Zeit“
Würden Sie sich also nicht mehr „christlich“ nennen?
Ich selbst nenne mich schon seit vielen Jahren nicht mehr Christ. War allerdings 25 Jahre lang sehr engagierter Christ.
Allerdings fühle ich mich seit 1 Jahr wieder einer Glaubens-Gemeinschaft verbunden, der zumindest sehr viele Christen angehören.
Ist also kompliziert .
Alles braucht etwas Hierarchie
Natürlich geht es wahrscheinlich nicht ganz ohne Hierarchie. Obwohl die Israeliten am Anfang kaum Hierarchie hatten, bis sie einen König wünschten wie die anderen Völker. In einer solchen kastenlosen Gesellschaft gab es kein Eigentum – vergleichbar auch mit unseren Vorfahren – die sich in der Natur ernährten und vor ihrer Sesshaftigkeit auch keine Hierarchie benötigten. Die guten Nebenwirkungen: Manche Soziologen behaupten, in dieser Frühzeit der Menschheit habe es selten Mord und Totschlag und nie Krieg gegeben. Sicher hat es immer eine Art oder Oberhäuptling gegeben. Heute ist Hierarchielosigkeit so gut wie unmöglich, aber mit flacher Hierarchie auszukommen durchaus Wunschtraum und Ideal. Aber selbst Organisationen, die dies für sich wünschten, haben es letztlich nicht realisiert weil sich kein Vorstand selbst abschaffen will. Auch jeder Hauskreis braucht einen Leiter, aber der braucht nicht dominieren, sondern der könnte auch moderieren. Natürlich braucht es dazu einige wenige Regeln und die braucht man idealerweise nicht in Schriftform.
> Natürlich geht es wahrscheinlich nicht ganz ohne Hierarchie.
Doch, das geht, mir ist zumindest ein Beispiel einer Religionsgemeinschaft ohne Hierarchie bekannt. Ist nur etwas mühsam.
> Auch jeder Hauskreis braucht einen Leiter
Nein, das geht sehr gut ohne. Das haben wir im Hauskreis nun viele Jahre so praktiziert. Nur die Gemeinden mögen das oft nicht, weil solche Hauskreise zur Unabhängigkeit neiden. Über Leitung kann man hingegen gut Einfluss nehmen.