Die Eroberung Kanaans durch die Israeliten wirkt abschreckend brutal. Theologe Julius Steinberg erklärt die alttestamentliche Ethik dahinter.
Hinweis: Den ersten Teil dieses Beitrags findest du hier. Dort zeigt Julius Steinberg auf, wie Kriege zur altorientalischen Lebenswirklichkeit gehörten. Gewalt war nicht nur Mittel der Expansion, sondern auch ein Instrument, um Recht und Gerechtigkeit durchzusetzen. Der zweite Teil knüpft an die Lage in dem Land an, das es zu erobern galt: Kanaan.
Schon früh ist in der Bibel davon die Rede, dass Gottes Volk einmal im Land Kanaan wohnen wird. Bereits Abraham bekam diese Zusage, viele Jahrhunderte bevor dies eintraf. Gott setzte allerdings noch eine Art Sperrfrist: Erst müsse „die Sünde der Amoriter das Maß voll gemacht haben“ (1. Mose 15,16). Das bedeutet: Gott greift noch nicht sofort als Richter ein. Für die Amoriter im Land Kanaan gibt es noch lange Zeit die Möglichkeit der Umkehr, bevor Gott dem Unrecht einen Schlussstrich setzt.
Darauf bezieht sich die biblische Berichterstattung, kurz bevor es dann mit der Eroberung losgehen wird. Mose betont, dass das Volk Israel das Land der Kanaaniter nicht deshalb erhalten wird, weil die Israeliten besonders gerecht wären, sondern „er vertreibt diese Völker aufgrund ihrer Verkommenheit“ (5. Mose 9,4-6). Ausführlich heißt es in 5. Mose 18,9-12:
„Wenn ihr in das Land kommt, das der Herr, euer Gott, euch gibt, dürft ihr auf keinen Fall die verabscheuungswürdigen Bräuche der dort lebenden Völker übernehmen. Niemand aus eurem Volk darf seinen Sohn oder seine Tochter durchs Feuer gehen lassen, Wahrsagerei oder Zauberei treiben, Omen deuten, hexen, andere mit einem Bann belegen, als Medium auftreten oder Tote beschwören und befragen. Jeder, der so etwas tut, ist dem Herrn ein Gräuel. Wegen dieser abscheulichen Taten wird er die anderen Völker vor euch vertreiben.“
Zustände im versprochenen Land
Die Sünden der Kanaaniter sind hier aus einem priesterlichen Blickwinkel formuliert. Es geht um Sünde gegenüber Gott, um Menschenopfer, um schwarze Magie und Totenverehrung. Erschütternd auch aus heutiger Sicht sind die Kinderopfer. Sie werden in der Bibel immer wieder warnend genannt und die Praxis ist durch grausige Funde zahlreicher Kinderknochen an verschiedenen Kultstätten archäologisch nachgewiesen. Hier gab es also durch den Aberglauben entstandene massive moralische Schieflagen, die Gott nicht dauerhaft hinnehmen wollte und konnte. Ein weiteres Thema sind sexuelle Grenzüberschreitungen (vgl. 3. Mose 18).
Dass Gott Gericht übt und dem Leben von Menschen ein Ende setzt, bleibt ein schweres Thema. In der heutigen westlichen Gesellschaft ist die Vorstellung eines richtenden Gottes kaum zu vermitteln, so scheint es – doch das stimmt nur vordergründig: Die Frage nach der Verantwortung des Schöpfers wird heute durchaus thematisiert, nämlich da, wo der Mensch sich selbst als Schöpfer betätigt. Ob es Genmanipulation ist oder die Schaffung künstlicher Intelligenz: Damit ist eine große Verantwortung verbunden. Auf der großen biblischen Skala lautet die Frage: Welche Verantwortung hat Gott, der Schöpfer, wenn seine Geschöpfe aufeinander losgehen?
Diese Frage wird in der Bibel bearbeitet, zuerst bei Kain und Abel und dann bei der Sintflut. Alles Leben zu vernichten, ist eine Option – doch sie ist mit großem Leid verbunden. Die andere Möglichkeit ist, den Geschöpfen Freiräume zu gewähren. Und das bedeutet auch, die Guten Gutes tun zu lassen und die Bösen Böses – aber nicht beliebig lange. Es braucht um der Gerechtigkeit willen, um der Unterdrückten willen, diese besonderen Zeiten, in denen Gott mit Macht eingreift, die Unterdrückten befreit und die Täter zur Rechenschaft zieht. Solche Zeiten nennt die Bibel den „Tag des Herrn“.
Ein einzigartiges, unwiederholbares Ereignis
Und doch bleibt noch eine weitere schwerwiegende Frage: Können Menschen von sich behaupten, im Namen Gottes Gericht zu üben? Der Missbrauch scheint da geradezu vorprogrammiert.
Dass in Kriegen, die Menschen gegeneinander führen, auch Gott seine Hand im Spiel hat, davon geht das Alte Testament aus. Kein Krieg geschieht, ohne dass Gott es zulässt. Dass Gott zu einem Krieg direkt aufruft, ist allerdings in der Bibel einmalig. Ein Prinzip des Heiligen Krieges kann daraus nicht abgeleitet werden.
Bei der Eroberung Kanaans kommen viele Faktoren zusammen: die Landverheißung an Abraham, die Notwendigkeit für Israel, nach dem Auszug aus Ägypten ein Land zu finden, und das Gericht über die Kanaaniter (vgl. 5. Mose 9,5). Theologen betonen, dass es sich dabei um ein singuläres und abgeschlossenes Ereignis handelt, das in dieser Kombination der Faktoren mit keinem anderen Kriegsgeschehen in biblischer oder heutiger Zeit verglichen werden kann und darf.
Einer Analyse von Waldemar Janzen zufolge lassen sich die Moralvorstellungen des Alten Testaments nicht in einer Liste von Tugenden oder wünschenswerten Charaktereigenschaften erfassen. Vielmehr orientiert sich die Moral an Modellen wie zum Beispiel der vorbildhaften Familie, dem vorbildlichen König oder dem vorbildlichen Priester. Das grundlegende Modell alttestamentlicher Ethik ist nach Janzen die Familie: gemeinsam unterwegs sein, zusammenhalten, einander unterstützen, das Land bebauen, Leben weitergeben.
Eine wichtige Ergänzung des familialen Modells ist der Wert der Gastfreundschaft. Er öffnet die Gemeinschaft für Außenstehende. Das königliche Modell lässt sich an David nachvollziehen: Er strebt danach, den Verlockungen der Macht nicht zu erliegen, sondern Gott treu zu bleiben und das Amt gewissenhaft auszuführen. Die Eroberungskriege lassen sich alttestamentlich am besten mit dem priesterlichen Modell in Verbindung bringen.
Für Gott „eifern“
Das priesterliche Modell wirkt aus heutiger Sicht allerdings harsch. Ein Beispiel ist Pinhas, der in einer Krisensituation seinen Eifer für Gott darin beweist, dass er den Übertreter und seine Konkubine mit einem Speer durchbohrt (vgl. 4. Mose 25,1-18). Pinhas wird für diesen Doppelmord nicht getadelt, sondern im Gegenteil gelobt. Er hat „Eifer“ für Gott gezeigt.
Das hebräische Wort qin’ah bedeutet zugleich Leidenschaft und Eifersucht; eine Liebe, die sich ganz investiert, die sich aber auch gegen eine Schmälerung ihrer Ansprüche zur Wehr setzt. Die Leidenschaft bzw. Eifersucht ist nach der Bibel eine Eigenschaft Gottes. Zum priesterlichen Ideal gehören das Leben im Bewusstsein der Gegenwart des heiligen Gottes, das engagierte und konsequente Eintreten für Gottes Sache sowie die Vermittlung von Sühne und Segen.
Dass die Eroberung Kanaans aus priesterlicher Perspektive zu betrachten ist, lässt sich an zwei Aspekten festmachen: Zum einen werden die Sünden der Kanaaniter aus priesterlicher Sicht beschrieben, wie oben dargestellt. Zum anderen werden sowohl die Überquerung des Jordans vor der Einnahme des Landes als auch die Eroberung der Festung Jericho am Beginn der Landnahme als kultische Ereignisse beschrieben. Die Kriegsleute ziehen um die Stadt, angeführt von sieben Priestern und der Bundeslade. Gott selbst lässt die Mauern einstürzen. Jericho verfällt dem Bann. Niemand darf überleben und es darf keine Beute gemacht werden: Die „Erstlingsgabe“ der Eroberung soll vollständig Gott gehören.
Keine Kriegsbegeisterung
Die übrigen Kriege, die das alte Israel geführt hat, sind als Verteidigungskriege zu werten. Die eigene Herrschaft über das Gebiet Israels hinaus auf fremde Völker auszudehnen war nie Teil von Israels Politik. Auch die Kriege Davids hatten das Ziel, Sicherheit und Frieden im Land zu gewährleisten. Das alttestamentliche Ideal ist, dass jede Volksgruppe ihren Raum zum Leben, ihren Platz auf der Landkarte findet.
Dass die Bibel Israels Kriege durchaus ambivalent bewertet, zeigt der folgende Zusammenhang: König David wird dafür gefeiert, dass er die Macht der Philister gebrochen hat und die anderen Feinde in Israels Nähe militärisch in Schach hält. Auf diese Weise wird Frieden möglich – ein Geschenk Gottes (vgl. 2. Samuel 7,1). Nicht alle Aktionen Davids werden allerdings gutgeheißen. Manches wird auch nur unkommentiert berichtet – und heutzutage fragt man sich durchaus, ob der eine oder andere Konflikt nicht mit weniger Gewalt zu lösen gewesen wäre.
Die Chronikbücher geben dazu einen aufschlussreichen Kommentar. Als Grund dafür, dass David den Tempel nicht bauen wird, heißt es: „Du hast in den großen Schlachten, in denen du gekämpft hast, viel Leben vernichtet. Weil du so viel Blut vor mir vergossen hast, sollst du es nicht sein, der ein Haus zu Ehren meines Namens baut.“ (1. Chronik 22,8). Auch wenn der Krieg in einer gefallenen Welt anscheinend ein notwendiges Übel ist: Gott möchte nicht, dass ein Kriegerkönig seinen Tempel baut. Diese Ehre wird erst dem Friedenskönig Salomo zuteil.
Von besonderer theologischer Bedeutung ist die Tatsache, dass die erste Einwohnerin Kanaans, die mit den Israeliten in Berührung kommt, nicht getötet wird, sondern Barmherzigkeit erfährt, nämlich die Prostituierte Rahab in Jericho.
Auch im Blick auf die Eroberung Kanaans selbst gibt es Zwischentöne. Der Stamm Dan kann das ursprünglich für ihn vorgesehene Gebiet an der Küste nicht einnehmen. In ihrer Not beschließen sie, stattdessen das Gebiet um die Stadt Lajisch im Norden zu erobern. „Sie überfielen die Stadt Lajisch, deren Einwohner ruhig und sorglos lebten“ (Richter 18,27). Gott schweigt dazu in auffälliger Weise.
Von besonderer theologischer Bedeutung ist die Tatsache, dass die erste Einwohnerin Kanaans, die mit den Israeliten in Berührung kommt, nicht getötet wird, sondern Barmherzigkeit erfährt, nämlich die Prostituierte Rahab in Jericho. Zugutezuhalten ist ihr nicht nur die Tatsache, dass sie die israelitischen Spione geschützt hat, sondern vielmehr noch ihr Bekenntnis zum wahren Gott (vgl. Josua 2,11). Sie und ihre Familie werden vor dem Tod bewahrt, zum Zeichen dafür, dass auch im Angesicht des Gerichts der Weg der Umkehr zu Gott offen bleibt.
Eine Geschichte der Macht – und des Gewaltverzichts
Die Bibel erzählt vom 1. Buch Mose an eine große Geschichte der Macht und des Machtmissbrauchs: von der Einsetzung des Menschen zum Herrscher in Gottes Auftrag hin zum Fluch der Herrschaft des Mannes über die Frau; von der Unterdrückung der Israeliten hin zu Israels Eroberungskriegen; über Erfolg und Scheitern von Israels Richtern und Königen; von fremden Mächten, die Israel brechen und die von Gott gebrochen werden, bis hin zur Hoffnung auf den von Gott gesandten König und sein Friedensreich, das in Jesus schon begonnen hat, das in der Gemeinde „mitten unter uns“ ist und dessen endgültige Aufrichtung wir noch erwarten.
Die Eroberung Kanaans durch Israel ist kein Ereignis, aus dem wir zeitlose moralische Leitlinien ableiten könnten oder sollten, sondern ein Kapitel im biblischen Diskurs um Macht oder, anders gesagt, in der biblischen Geschichte des Heils. Die priesterlichen Werte, für Gott zu „eifern“ und Sühne zu schaffen, sind nicht auf das Alte Testament beschränkt. Auch Jesus hat für Gott geeifert, indem er die Tische der Geldwechsler im Tempel umgestoßen hat. Und er hat für die Menschen durch seinen Opfertod Sühne bewirkt.
Zugleich werden heilsgeschichtliche Umbrüche sichtbar: Jesus ruft seine Jünger zum Gewaltverzicht auf. Die Gewaltlosen sind es, die das Land erben werden (vgl. Matthäus 5,5). Jesus hat anderen Menschen keine Gewalt zugefügt, sondern sie geheilt. Er hat keine Gewalt verübt, doch er hat Gewalt durch Menschen erlitten. Auch darin war Gott selbst am Werk. Jesus Christus wurde zum Opferlamm, durch das Gott die Welt mit sich versöhnt für alle, die an ihn glauben.
Julius Steinberg hat Theologie in Gießen und in Leuven studiert und war Prediger einer Landeskirchlichen Gemeinschaft. Seit 2007 ist er Professor für Altes Testament an der Theologischen Hochschule Ewersbach.
Der Beitrag ist entnommen aus „Neues Leben. Die Israel-Bibel“, die kürzlich bei SCM R.Brockhaus erschienen ist. SCM R. Brockhaus gehört wie Jesus.de zur SCM Verlagsgruppe.