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Wenn das eigene Kind plötzlich stirbt

Herbert Geisser genießt gerade den Urlaub mit seiner Frau, als ihn ein Anruf erreicht: „Dein Sohn ist beim Surfen verunglückt!“ Wo war Gott im Moment des Unglücks?

Es war der 29. August 2020. Ein grauer, kalter und regnerischer Tag. Ich befand mich zusammen mit meiner Frau auf einer Reise in Arosa. Nachdem wir das Bärenland bei der Mittelstation der Weisshornbahn besichtigt hatten, zogen wir uns ins warme Bergrestaurant zum Mittagessen zurück. Wir aßen Älplermaccaroni und Apfelmus. Mein Handy riss mich aus der Idylle der Bergwelt.

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Eine befreundete Frau aus unserer Kirche war am anderen Ende: „Komm so schnell du kannst nach Jaberg, dein Sohn treibt bewusstlos in der Aare.“ – „Was!?“ – „Komm schnell, Nick ist beim Aare-Surfen verunglückt.“ Mich traf der Schlag. Ich begann zu schlottern, der Boden wurde mir unter meinen Füßen weggerissen. „Mein Sohn schwebt in Lebensgefahr – und ich bin über 200 km weit entfernt von ihm und kann ihm nicht helfen.“

Meine Ohnmacht in diesem Moment war riesig. Ich rang nach Worten, rannte wie ein wildes Tier auf der Plattform der Bergbahn hin und her. „Was kann ich tun, um das Leben meines Sohnes zu retten?“ Als meine Frau mich völlig verstört vorfand, beteten wir zusammen. Wir fuhren mit der Bergbahn runter nach Arosa. Dort richtete Gott meinen Blick auf eine Plakatwand: „Arosa – the gate to heaven.“

Antwortlos an der Schwelle zum Himmel

In dem Moment wusste ich innerlich: „Dein Sohn steht jetzt an dieser Schwelle zum Himmel.“ Liebend gerne hätte ich ihn wieder zu uns zurückgeholt. Aber es sollte nicht sein. Mein Sohn starb an diesem 29. August 2020. Wir mussten ihn unmittelbar nach unserer Heimkehr im Inselspital identifizieren. Da lag er vor uns, als würde er schlafen. Am Morgen noch quicklebendig und jetzt leblos. Und trotzdem tat es gut: Wir konnten ihn noch einmal herzen. Ihm noch einmal die Haare streicheln. Die Tränen flossen in Strömen. Wir liebten ihn, er war unser Stolz, er hatte noch so viele Pläne. Er träumte davon, mit einem selbst umgebauten Bus die Welt zu bereisen, freute sich darauf, einmal Vater zu werden, und da lag er nun vor uns – tot. Einfach unfassbar!

Als Familie war es uns wichtig, für Nick eine persönliche und würdige Abschiedsfeier zu gestalten. Zusammen mit unseren drei Töchtern und dem Schwiegersohn formulierten wir, wer Nick für uns war und was er uns bedeutete. Die Tränen flossen in Strömen. Wir erinnerten uns aber auch dankbar und zuweilen sogar mit einem leisen Lächeln an unbeschwerte und fröhliche Stunden, die wir miteinander verbrachten. Wir erkannten: Jeder Tag mit ihm war ein großes Geschenk. Er hat unser Leben so reich gemacht.

Die kommenden Tage waren eine wilde Achterbahn. Die Betroffenheit war groß. Viele Menschen kamen vorbei, bekundeten uns ihr Beileid, boten uns ihre Hilfe an, brachten Essen vorbei. Wir wurden beschenkt mit Blumen, Kerzen, Gestecken und überschwemmt mit unzählbaren Trauerkarten voller Beileidsbekundungen. All diese Liebeszeichen waren kostbar und wertvoll. Wir spürten: Wir sind nicht allein. Da sind ganz viele Menschen, die sind betroffen, die leiden mit und denen ist unser Schicksal nicht egal. Andere Leute waren überfordert. Sie gingen uns aus dem Weg, wussten nicht, wie sie reagieren sollten.

Brutal beraubt …

Trotz aller Anteilnahme wurde uns schnell bewusst: Dieses dunkle Tal müssen wir ganz allein durchschreiten. Die Anteilnahme hilft, doch sie wirkt bloß wie ein Pflaster auf eine klaffende Wunde. Der Sohn, der mir so nahestand, mit dem ich so viele unvergessliche Stunden erlebte, ist auf einmal nicht mehr da. All die wertvollen Gespräche, Ausflüge, Abenteuer, Ferien und Events, die wir zusammen besuchten, können nicht wiederholt werden. Sie bleiben nur noch als blasse Erinnerungen zurück. Ich fühlte mich meiner Zukunft beraubt.

Wie viel hätten wir noch gemeinsam unternehmen wollen! Wie hätte ich mir gewünscht, mitzuerleben, wie er seinen Mann steht und Kinder großzieht. Wie hätte er sich wohl beruflich weiterentwickelt? Mir brach es das Herz. Ist es nicht ungerecht, dass ihm ein längeres Leben verwehrt blieb? Wo war Gott im Moment des Unglücks? Weshalb kam jede Hilfe zu spät? Fragen, die nicht beantwortet werden konnten und bis zum heutigen Tag offen bleiben.

Die Lücke, die er in unserem Leben hinterlassen hat, ist groß. Nick fehlt immer und überall. Die Liebe zu ihm ist geblieben, ja, sie wurde durch seinen Tod noch intensiver. Aber diese Liebe findet das Gegenüber nicht mehr. Zurück bleibt ein innerer Schmerz. Ich fühle mich völlig amputiert. Mal kann ich weinen, dann fühle ich mich leer und niedergeschlagen.

Spannend war aber, dass wir uns trotz allem von Gott nicht verlassen fühlten. Bereits nach dem Empfang der Todesnachricht empfanden wir – nebst dem Verlustschmerz – auch ein für diese Situation eigenartiges Gefühl: Dankbarkeit. Wir hatten während der vorherigen 18 Jahre einen wunderbaren Sohn. Als er drei Wochen alt war, hätten wir ihn durch einen Infekt schon einmal beinahe verloren. Nun haben wir einen Ozeandampfer voller unvergesslicher Erinnerungen. Wir wussten: Er ist jetzt bei Gott. Eine Woche vor seinem Unfall ließ er sich taufen.

… und dennoch beschenkt

Bei dieser Gelegenheit erhielt er mit 2. Korinther 4,16f. ein spezielles Bibelwort: „Mögen auch die Kräfte unseres äußeren Menschen aufgerieben werden – unser innerer Mensch wird Tag für Tag erneuert. Denn die Nöte, die wir jetzt durchmachen, sind nur eine kleine Last und gehen bald vorüber, und sie bringen uns etwas, was von unvergleichlich viel größerem Gewicht ist: eine unvorstellbare und alles überragende Herrlichkeit, die nie vergeht.“

Als Nick diese Worte anlässlich seiner Taufe erhielt, verstand ich nicht, wie man einem jungen Menschen so einen Taufspruch geben kann. Jetzt, eine Woche später, erkannten wir die prophetische Dimension dieser Verse. Wollte Gott uns mit diesem Taufspruch auf dieses schreckliche Ereignis vorbereiten? Die Worte enthielten viel Zuspruch. Auf die Not (Tod durch Ertrinken) folgt eine unvorstellbare, alles überragende Herrlichkeit, die niemals vergehen wird. Unverständliche Worte bekamen auf einmal Trost spendende Konturen.

Wir erlebten Gott als jemanden, der diesen Unfall zwar nicht verhinderte, uns aber in unserer Trauer und Not nicht allein ließ.

Herbert Geisser

Wir erlebten Gott als jemanden, der diesen Unfall zwar nicht verhinderte, uns aber in unserer Trauer und Not nicht allein ließ. Dabei gebrauchte er Menschen als seine Botschafter. Eine junge Frau, die Nick nicht kannte, schrieb ein Lied über ihn, das uns offenbarte, wie Gott ihn sah. Mein Bruder gab mir am offenen Grab eine Feder, weil er glaubte, Gott wolle uns durch diese Feder Mut zusprechen. Spannend war, wie Gott uns danach immer wieder solche Federn vor die Füße legte.

Wir fanden kleine, feine weiße Federn, aber auch große farbige Federn an Orten, wo wir vorher Federn nie bewusst wahrgenommen hatten. Diese Federn sammelten wir in einem Glas. Hinter jeder Feder glaubten wir ein Augenzwinkern Gottes zu sehen, so als ob er uns sagen möchte: „Ich weiß, wie es euch geht. Ich habe euch nicht vergessen. Ich komme mit euch durchs finstere Tal.“

Schmerzlich vermisst …

Und dennoch: Nick fehlt. Jedes Familienmitglied trauert. Alle ein wenig anders. Ich konnte meiner Trauer freien Lauf lassen, meine Frau stand eher unter Schock, reagierte zuweilen gereizt und verarbeitete weniger wortreich als ich. Zum guten Glück brachten wir viel Verständnis füreinander auf. Wir konnten einander stützen. Wir waren füreinander da. Nach den ersten Wochen versuchte ich, im Alltag wieder Fuß zu fassen. Es war nicht einfach. Für unsere Mitmenschen ging nach dem ersten Schock das Leben einfach weiter, für uns änderte es alles.

Es war, als wäre ein Schatten über unser Leben gekommen. Ich konnte und wollte die Sonne nicht mehr an mein Herz heranlassen. Ich wollte nicht mehr lachen, mich nicht mehr freuen. Es fühlte sich nicht richtig an. Stattdessen beschäftigte ich mich mit der Ewigkeit. Wie wird das einmal sein? Wie muss ich mir ein Leben nach dem Tod vorstellen? Ich las Bücher, doch vorstellen kann ich mir dieses ewige Leben auch nach dem Lesen einiger Bücher noch nicht.

Wichtig war, dass ich außerhalb der Familie Anlaufstellen hatte, wo ich mit meinem Schmerz hingehen konnte. Ich tauschte mich auf Spaziergängen mit vielen Pastorenkollegen aus der Evangelischen Allianz aus. Ich fand in einem verständnisvollen Pfarrer der reformierten Kirche einen einfühlsamen Trauerbegleiter. Bei ihm konnte ich weinen, meine Fragen stellen und still werden. Er ließ mir Zeit, hörte mir zu und begleitete mich durch das dunkle Tal.

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Mittlerweile sind über zwei Jahre vergangen. Es waren die härtesten Jahre meines Lebens. Ich musste einen Weg gehen, den ich aber nicht missen möchte. Persönlich habe ich bei Gott Frieden gefunden. Während dieser Zeit dachte ich so viel über das Leben und das Sterben nach. Diese Auseinandersetzung war wichtig. Gott änderte mein Denken von Grund auf. Das Leben hier auf Erden ist wichtig, aber nicht alles. In der Bibel lese ich, dass Christus mein Leben ist und das Sterben mein Gewinn. Wenn das tatsächlich wahr ist, dann reformiert das meine Sichtweise des Lebens. Dann ist Nick nichts verwehrt geblieben, sondern er konnte eine Abkürzung nehmen.

Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass ich Nick jeden Tag schmerzlich vermisse. Immer mal wieder übermannt mich die Trauer. Meine Augen füllen sich mit Tränen. Es bleibt ein Kampf und trotzdem trägt und tröstet mich die Hoffnung auf ein Wiedersehen im Himmel. Unser Pastor, Simon Kaldewey, prägte anlässlich der Abdankungsfeier das Wort „Hoffnick“. Jedes Familienmitglied ließ sich als Erinnerung an Nick dieses Wort als Tatoo stechen. Dieses Wort gehört wie Nick zu unserem Leben. Es erinnert uns an einen wunderbaren Menschen, den wir zwar schmerzlich vermissen, mit dem wir aber das Leben in Ewigkeit genießen und feiern werden.

Herbert Geisser ist Mitglied der Geschäftsleitung des Hilfswerks HMK Schweiz (Hilfe für Mensch und Kirche).


Ausgabe 2/23

Dieser Artikel ist im Männermagazin MOVO erschienen. MOVO ist Teil des SCM Bundes-Verlags, zu dem auch Jesus.de gehört.

2 Kommentare

  1. Dunkle Täler gehören zum Leben

    „Trotz aller Anteilnahme wurde uns schnell bewusst: Dieses dunkle Tal müssen wir ganz allein durchschreiten“! Bei aller Trauerbegleitung, den guten Reaktionen und Hilfen der Menschen, durch die Dunkelheiten dieser Welt muss jeder über kurz oder lang hindurch. Aber dem gegenüber steht doch der Doppelpunkt hinter unserem Leben, hinter dem das eigentliche Leben in Gottes Neuer Welt beginnt. Allerdings dem Trauernden muss und darf man diesen Prozess des Trauerns lassen. Wie im Psalm 23 sind es die dunklen Täler, die auch wirklich dunkel sind und aus denen heraus jede/r auch wieder die lichten Höhen erreicht. Vielleicht mag uns grundsätzlich trösten, dass es keine perfekte Welterklärung gibt, weder der Wissenschaft noch der Theologie, auch nicht die Erbsünde lässt sich formelhaft erklären wie Einsteins Relativitätstheorie: Aber wir alle sehen heute Gott noch wie in einem dunklen Spiegel, aber dann später auch von Angesicht zu Angesicht und dann wissen wir auch warum die Welt so sein muss wie sie derzeit ist.

  2. Schrecklich, traurig und unaussprechlich!!! Plötzlich und völlig unerwartet kann unser persönlichster Glaube so auf die heftigste Probe gestellt werden. Und da stehen, sind wir dann vor unserem Gott! Wird man je wieder selbst wirklich leben? Der Sohn eines Freundes hat sich aufgehängt. Die Mutter ist daran zerbrochen, es hat sie völlig zerstört und sie ist auch verstorben. Da braucht es keine Sprüche! Wie können wir uns mit einer solchen Erfahrung wieder aufrichten? Können wir es überhaupt? Wie können unser Glaube, Gott und echt gute Gemeinschaft uns hier aufhelfen? Ist unsere Gemeinde bereit dafür? Gott stehe allen bei, die eine solche gräßliche Erfahrung machen mussten. Aber solche Sprüche, egal wie gut gemeint, helfen dann auch öfters nicht mehr…

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