In diesem Lied beklagt Philipp Spitta die Lage der Christenheit zu seiner Zeit. Er fordert, sich klar zum Evangelium zu bekennen.
- O komm, du Geist der Wahrheit,
und kehre bei uns ein,
verbreite Licht und Klarheit,
verbanne Trug und Schein.
Gieß aus dein heilig Feuer,
rühr Herz und Lippen an,
dass jeglicher getreuer
den Herrn bekennen kann. - O du, den unser größter
Regent uns zugesagt:
komm zu uns, werter Tröster,
und mach uns unverzagt.
Gib uns in dieser schlaffen
und glaubensarmen Zeit
die scharf geschliffnen Waffen
der ersten Christenheit. - Unglaub und Torheit brüsten
sich frecher jetzt als je;
darum musst du uns rüsten
mit Waffen aus der Höh.
Du musst uns Kraft verleihen,
Geduld und Glaubenstreu
und musst uns ganz befreien
von aller Menschenscheu. - Es gilt ein frei Geständnis
in dieser unsrer Zeit,
ein offenes Bekenntnis
bei allem Widerstreit,
trotz aller Feinde Toben,
trotz allem Heidentum
zu preisen und zu loben
das Evangelium. - In aller Heiden Lande
erschallt dein kräftig Wort,
sie werfen Satans Bande
und ihre Götzen fort;
von allen Seiten kommen
sie in das Reich herein;
ach soll es uns genommen,
für uns verschlossen sein? - O wahrlich, wir verdienen
solch strenges Strafgericht;
uns ist das Licht erschienen,
allein wir glauben nicht.
Ach lasset uns gebeugter
um Gottes Gnade flehn,
dass er bei uns den Leuchter
des Wortes lasse stehn. - Du Heilger Geist, bereite
ein Pfingstfest nah und fern;
mit deiner Kraft begleite
das Zeugnis von dem Herrn.
O öffne du die Herzen
der Welt und uns den Mund,
dass wir in Freud und Schmerzen
das Heil ihr machen kund.
Philipp Spitta
Ein langer Wunschzettel
„Ihr seid alle durch den Glauben Gottes Kinder.“ (Galater 3,26). „Seht, welch eine Liebe hat uns der Vater erwiesen, dass wir Gottes Kinder heißen sollen – und wir sind es auch!“ (1. Johannes 3,2). Wer ist gemeint? Wir als Christen, als Gemeinde, als Kirche! Und wann feiert die Christenheit ihren Geburtstag? Manche denken vielleicht: zu Weihnachten. Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Die christliche Kirche ist das Werk des dreieinigen Gottes, des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes! Ihr Geburtstag ist im Kirchenjahr der fünfzigste Tag nach Ostern: also Pfingsten!
Nicht nur zu Weihnachten, sondern auch zu ihren Geburtstagen dürfen Kinder gerne einen Wunschzettel abgeben. Zum „Geburtstag der Kirche“ 1827 schrieb Philipp Spitta einen langen Wunschzettel, ein Gedicht: Das Lied „O komm, du Geist der Wahrheit“! Ein Freund überredete Spitta dazu, seine Gedichte und damit auch diesen Liedtext zu veröffentlichen. Das Büchlein „Psalter und Harfe. Eine Sammlung christlicher Lieder zur häuslichen Erbauung“ erschien 1833 und wurde 1843 noch einmal erweitert. Der Titel der Sammlung ist übrigens ein Zitat aus Psalm 57 in der Übersetzung Martin Luthers. Über 50 Auflagen sind erschienen – ein Bestseller! Viele der darin enthaltenen Gedichte wurden nach und nach mit überlieferten oder neuen Melodien versehen.
Anstößige Begriffe
Das Lied „O komm, du Geist der Wahrheit!“ umfasst im Original sieben Strophen. Man findet alle im Evangelischen Gesangbuch, in anderen Liederbüchern jedoch mehr oder weniger gekürzt. Die erste Strophe enthält bereits sechs eindringliche Bitten und auffällig viele Wortpaare. An etlichen Stellen des Liedes findet man deutliche Hinweise auf die damalige Lage der Christenheit, die Spitta nicht ohne Grund beklagt: Mangel an gelebtem Glauben, fehlender Mut zum Bekenntnis. Einige Begriffe gelten heute als „veraltet“, wenn nicht sogar als anstößig: zu „militaristisch“. Aber sie stammen aus explizit biblischen Kontexten, beispielsweise Epheser 6,10.17.
Spitta gehört zu den Vertretern der Erweckungsbewegung, die sich entschlossen dem Rationalismus widersetzten. Soll denn der Verstand Vorfahrt vor dem Glauben haben? Bitte nicht! Es droht eine zunehmende Entkirchlichung. In einer der Strophen des Originaltextes wird der Segen der – damals so genannten – „Heidenmission“ besungen, geradezu als Impuls für die seinerzeit neu entstehende, dringend notwendige „Innere Mission“.
Spuren des Segens
In aller Deutlichkeit ruft das Lied „O komm, du Geist der Wahrheit“ dazu auf, sich offen zur Botschaft des Evangeliums zu bekennen. Und Buße zu tun! Und das Wort Gottes nicht verblassen, sondern leuchten zu lassen. Es folgen weitere Bitten, die die Verantwortung der „älteren“ Christenheit für die Weitergabe des Evangeliums in der weiten Welt und hierzulande auf den Punkt bringen, koste es, was es wolle.
Die Biografie Spittas zeigt, dass er diesen Weg eingehalten hat. Als er den Text verfasste, war er noch Hauslehrer, weil freie Pfarrstellen damals immer knapper wurden. Dann aber konnte er in verschiedenen Ämtern als Pfarrer tätig sein, unter anderem auch als Gefängnisseelsorger und schließlich sogar als Superintendent. Spitta hat viele Spuren des Segens hinterlassen – als bibelnaher Verkündiger und nicht zuletzt als Liederdichter! Sein Wunschzettel ist keineswegs völlig veraltet. Im Gegenteil!
Text: Günter Balders