Viele Menschen sehnen sich nach mehr Gemeinschaft. Wie kann das im Alltag funktionieren? Astrid Eichler zeigt einige praktische Beispiele und benennt typische Stolpersteine.
Von Astrid Eichler
Es wäre so schön, mehr Gemeinschaft zu haben – Das sagen Ehepaare, deren Kinder aus dem Haus sind, Singles in jeder Lebensphase, Menschen nach dem Schmerz von Trennung und Scheidung oder an der Schwelle zum Ruhestand. Es gibt eine große Sehnsucht nach (mehr) Gemeinschaft. Natürlich! Denn dafür sind wir geschaffen, darauf angelegt. Es ist nicht gut, dass der Mensch allein ist (1.Mose2,18). Selbst die Ehe erfüllt die Gemeinschafts-Sehnsucht nicht in jeder Hinsicht. Kein Mensch kann oder soll für einen anderen alles sein. Und natürlich christlich geprägt! In Apostelgeschichte 2 wird uns Glaube und Leben der ersten Christen als eine große Gemeinschaftsbewegung beschrieben. Und das ging ja schon am Anfang los: Jesus zog nicht als einsamer Guru durchs Land, sondern sammelte sich eine Gemeinschaft. Und es gründet noch viel früher und tiefer: Unser Gott ist in seinem Wesen Gemeinschaft: Vater, Sohn und Heiliger Geist.
Die Sehnsucht nach (mehr) Gemeinschaft ist tief in uns eingepflanzt. Und dann machen wir uns auf den Weg, dieser Sehnsucht zu begegnen – und viele scheitern…
Vision und Modelle: Lebenszellen
Am Anfang unserer Geschichte als Netzwerk für Singles hatten wir ein Ziel klar vor Augen: Singles und Verheiratete tun sich zusammen zu kleinen gemeinschaftlichen Lebenszellen. Gemeinschaft – nicht an klösterlich exponierten Orten, sondern mitten im Leben, im Alltag. Ganz verschieden könnten sie aussehen. Inzwischen gibt es solche Gemeinschaften. Es sind noch sehr wenige, aber sie sind so verschieden, dass jede wie ein Muster ist und zeigt: Es könnte noch ganz anders sein! Vorweg ganz wichtig: Gemeinschaft fängt nicht mit gemeinsamem Wohnen, mit einem Haus oder Grundstück an. Gemeinschaft ist nicht gleich Wohngemeinschaft. Es gibt ganz andere Möglichkeiten! Es geht zutiefst darum, dass Menschen sich verbinden, um einander Zugehörigkeit zu schenken und miteinander Leben zu teilen. Hier ein paar Beispiele:
Da sind vier Leute, ein kinderloses Ehepaar und zwei Singles. Die Wohnungen liegen vier Kilometer auseinander. Das ist eine Entfernung, die sich gut überwinden lässt. Allerdings hat die eine der Singlefrauen ihren Lebensmittelpunkt und Arbeitsort 500 Kilometer weit entfernt. Es ist nicht der gemeinsame Alltag, der diese Gemeinschaft prägt, aber die gegenseitige Zugehörigkeit ist ein hoher Wert. Im Zeitalter digitaler Kommunikation kann man auch über Entfernungen hinweg viel Leben miteinander teilen. In ihrer Gemeinschafts-Vereinbarung kann man lesen: „In unregelmäßigen Abständen haben wir eine gemeinsame Zeit für Austausch und Gebet. Wir wollen genug Zeit miteinander verbringen, damit zwischen uns etwas wachsen kann, was dem Leben dient …“ Nach über zehn Jahren gemeinsamen Weges ist etwas Kostbares gewachsen.
Da sind drei Singlefrauen, die sich zusammengetan haben, um einander Zugehörigkeit zu schenken und miteinander Leben zu teilen. Eine von ihnen ist umgezogen, um in Fahrradnähe zu den anderen zu sein. Regelmäßig treffen sie sich, um miteinander etwas zu unternehmen und sich auszutauschen. Hat eine etwa einen schwierigen Arzttermin, geht eine andere mit. Im Gebet stehen sie miteinander und füreinander ein. Und es ist eben kein „Zufall“ mehr, dass sie gemeinsam auf dem Weg sind. Vielleicht, wenn sie älter sind, ziehen sie noch mal näher zu einander oder sogar zusammen. Das Gute: Sie kennen einander dann schon lange und wissen, wie Gemeinschaft funktionieren kann.
Da sind eine Singlefrau und eine Familie mit fünf Kindern. Als Freunde wohnten sie 15 Kilometer auseinander und fuhren gemeinsam in den Urlaub. Die Singlefrau war von dem Wunsch nach mehr Gemeinschaft umgetrieben und fragte ihre Freunde: „Könnt ihr euch vorstellen, dass wir Lebensgemeinschaft werden?“ Gemeinsam bewegten sie die Frage, kamen zu einem Seminar, um sich dem Thema zu stellen und entschieden sehr bald: „Ja, wir werden Lebensgemeinschaft.“ Inzwischen wohnen sie in einer Reihenhaussiedlung Wand an Wand. Abends um 18:30 Uhr ist gemeinsame Essenszeit. Die Kinder haben nicht nur die Eltern – und die Singlefrau ist beschenkt durch die Kinder. Das Leben hat Farbe gewonnen.
Da sind zwei Singlefrauen in einem Haus. Der einen gehört es, die andere wurde Mieterin – aber nicht einfach so, sondern um einander Zugehörigkeit zu schenken und miteinander Leben zu teilen. Es waren keine Kurzschlusshandlungen, sondern gut vorbereitete Wege. Der Umzug brachte einer einen längeren Arbeitsweg. Doch der Wunsch nach (mehr) Gemeinschaft war stärker. Sie leben als WG und sagen: „Wenn schon, denn schon richtig.“
Da sind sieben Singles in zwei Häusern. Ihre Gemeinschaft wurzelt in dem gemeinsamen Wunsch, als Lebens-und Dienstgemeinschaft ein Zeichen zu setzen für das Beste der Stadt, in der sie leben. Es fing mit zweien an in einem Haus, in dem es viele Baustellen gab, damit dort mal Gemeinschaftsräume und vier Wohnungen Platz haben. Von Anfang an lebten sie ein offenes Haus. Sie luden Menschen zu sich ein, haben einen Hauskreis, öffnen zweimal im Jahr eine Kleiderbörse, feiern ein Sommerfest mit vielen Gästen aus dem Ort. Ihr Name hat einen guten Ruf. Sie sind Salz in der Suppe des Ortes. Sie erleben, welche Kraft in Gemeinschaft steckt und wie sehr es sie herausfordert, Gemeinschaft zu leben.
Was will ich eigentlich?
Oh ja, Gemeinschaft ist ein Geschenk und eine Herausforderung. Sie macht das Leben reich, hat einen Preis – und viele scheitern auf dem Weg. Das ist ein Schmerz. Je länger wir auf dem Weg sind zu (mehr) Gemeinschaft, umso deutlicher wird: Sehnsucht, vielleicht auch Begeisterung, reichen nicht. Wenn wir wissen: Gemeinschaft braucht viel Gebet, umso besser. Aber wir brauchen dafür auch Gemeinschafts-Kompetenz. Es ist ja durchaus normal: Wenn wir etwas Neues machen wollen, schauen wir, wo wir lernen können, was es dafür braucht – wir lesen Bücher, belegen Kurse. Auch für die Suche nach (mehr) Gemeinschaft ist es nötig zu lernen, was es auf dem Weg braucht, wenn wir nicht nach kurzer oder längerer Zeit sagen wollen: „Nee, das ist mir zu anstrengend.“ Da steht zuerst die Frage im Raum: Was bin ich für ein Gemeinschaftssucher? Was treibt mich? Was steckt zutiefst dahinter? Ist es die Sehnsucht, bei all den vielen Projekten und Diensten, in denen ich gefordert bin, ein Zuhause zu haben, einen Ort, wo ich einfach nur sein kann, spielen, essen, feiern? Oder bin ich zutiefst davon überzeugt: Gemeinsam sind wir stark! Nur als Gemeinschaft werden wir die Welt um uns herum verändern können. Und deshalb suche ich Gemeinschaft als Ausgangsbasis für Dienste und Projekte? Sind es andere Ideen? Nichts davon ist per se falscher oder richtiger als das andere. Aber es sind sehr verschiedene Ansätze. Schwierigkeiten sind vorprogrammiert, wenn man sich, ohne dass man diese Frage miteinander bedacht hat, gemeinsam auf den Weg macht. Es braucht also Klarheit: Wenn ich von (mehr) Gemeinschaft rede, was meine ich dann eigentlich? Die Antwort ist oft diffus und manche wissen sehr genau, was sie nicht wollen. Aber das reicht nicht, um gemeinsame Schritte zu tun.
Fragen, Werte, Regeln
Und dann die andere Frage: Wer bin eigentlich ich, wie ticke ich? Wie ticken die anderen? Was prägt mich und wieso sind die anderen so anders?
Menschen, die sich auf den Weg zu mehr Gemeinschaft machen, brauchen den Blick auf sich selbst und immer wieder die Bereitschaft, sich selbst und das Geschehen miteinander zu reflektieren.
Man kann das abtun als „Psycho-Geschwätz“. Aber es kann auch richtig Spaß machen, sich selbst und die anderen immer besser kennenzulernen und allmählich zu verstehen, warum ich so bin und nicht anders, die anderen aber eben ganz anders. Die meisten Konflikte entstehen aus fehlender oder schlechter Kommunikation. Die aber ist kein Schicksal, sondern hier können Menschen gemeinsam lernen, es besser zu machen. Eine andere tiefe Quelle von Konflikten ist das Nicht-Wissen um unsere Werte, um das, was uns oder mir wirklich wichtig ist. Daran scheitern Gemeinschaften häufig. Wenn es dem einen absolut wichtig ist, dass alle pünktlich sind, der andere aber immer wieder später kommt, weil es doch noch etwas ganz Wichtiges für jemand anderes zu tun gab. Man muss doch schließlich helfen, oder?
Gottes Herz schlägt für Gemeinschaft
Es geht oft um ganz alltägliche Dinge, die einfach mal bewusstgemacht werden müssen. Und wenn wir lernen, wer wir sind, wie wir ticken, was wir wollen, dann brauchen wir auch noch Vereinbarungen, oder? Aber wozu brauchen wir wirklich welche? Worüber müssen wir immer wieder sprechen und was muss klar sein? Was gilt zwischen uns? Wir haben in den vergangenen Jahren aus den schönen und den schmerzlichen Erfahrungen von Gemeinschaft viel gelernt. Mir persönlich ist immer klarer geworden: Gemeinschaft ist menschlich unmöglich. Aber bei Gott ist kein Ding unmöglich! (Lk1,37; Mk10,27) Wie gut! Unsere Ichbezogenheit, Selbstzentriertheit, Verletztheit, blinde Flecken – ach, was könnte man da noch alles aufzählen: Es geht nicht! Und es gibt viele Beweise dafür. Aber wenn ich in die Bibel schaue, dann entdecke ich dort sehr viel, was Gemeinschaft möglich macht. Viele Geheimnisse für Gemeinschaft werden dort enthüllt. Dann kriege ich richtig Lust, mich mit vielen auf den Weg zu machen, damit Gemeinschaft wieder „normal“ wird in unserer Welt, in der es immer mehr Einsamkeit gibt. Gottes Herz schlägt für Gemeinschaft.
Astrid Eichler, Pfarrerin und Gründerin von EmwAg (Es muss was Anderes geben), heute Solo&Co., schrieb diesen Artikel für die Zeitschrift AUFATMEN. AUFATMEN ist ein Produkt des SCM Bundes-Verlags, zu dem auch Jesus.de gehört.