Die von Zürich ausgehende Reformation ist untrennbar mit Ulrich Zwingli verbunden. Er kam 1519 in die Stadt an der Limmat, wo er von der Großmünsterkanzel seine religiöse Freiheitsidee predigte. Doch reformiert wurde die Stadt durch einen anderen.
Ein Beitrag von Gabriella Hofer für das christliche Medienmagazin pro zur Themenwoche Reformation.
Zürich ist zwinglianisch. Könnte man meinen, wenn man in Reiseführern von der „zwinglianisch aufgeräumten Atmosphäre“ in der Altstadt liest und von der Wasserkirche, die ein „zwinglianisch kahler Bau“ ist. Auch ein mieses Weihnachtsgeschäft lässt sich mit dem Reformator in Zusammenhang bringen. Dann spricht man vom „zwinglianisch gedämpften Kaufrausch“. Zwinglianisch steht für nüchtern, freudlos, puritanisch.
So ist Zürich aber nicht. Hier wird auch gefeiert und gelacht. Präsidiert wird die größte Stadt der Schweiz von einer Frau, die in den USA geboren wurde und mit einer Frau verheiratet ist, Bassistin in einer Punkrockband war, einer Agrarökonomin, Sozialdemokratin – und Protestantin: Corine Mauch. In einem Interview der evangelischen Zeitschrift reformiert sagt sie: „Das Gemeinsame, nicht Egoismus und Rücksichtslosigkeit, macht das Menschsein aus. Es geht um Gerechtigkeit.“ Das könnten ebenso gut Zwinglis Worte sein.
Humanist, Realist, Teamplayer
Ulrich (auch Huldrych) Zwingli lebte von 1484 bis 1531. Er stammte aus einer wohlhabenden Toggenburger Bauernfamilie und studierte in Wien und Basel Philosophie. Nach seinem Abschluss studierte er noch Theologie, aber nur ein Semester lang, dann wurde er 1506 zum Priester geweiht. Beeinflusst durch den Humanisten Erasmus von Rotterdam, mit dem er regen Briefkontakt pflegte, begann Zwingli 1516 in Einsiedeln, wo er als Pilgerpriester tätig war, „kirchliche Fehlhandlungen“ wie Wallfahrt, Ablass, Fegefeuer und Heiligenverehrung zu kritisieren.
Er verurteilte auch politische Missstände, forderte die Abschaffung des Söldnerwesens. Seine Predigten fanden über Einsiedeln hinaus Beachtung. 1519 wurde er als Leutpriester, ein Pfarrer für die einfachen Leute, nach Zürich berufen. Etwa 7.000 Einwohner zählte die Stadt damals.
In seinen Predigten am Großmünster – nicht mehr lateinisch, sondern in seiner Muttersprache „Tütsch“ – begann er das Neue Testament auszulegen und forderte eine Rückbesinnung auf die Bibel. Der Zürcher Stadtrat, die Zünfte und die Bevölkerung folgten seinen Ideen. Bilder wurden aus den Kirchen entfernt, statt des Altars ein einfacher Tisch aufgestellt, Klöster aufgehoben, ihre Güter säkularisiert. Damit hatte Zwingli die Deutschschweizer Reformation eingeläutet. Von der Kanzel im Zürcher Großmünster aus.
Zwinglis Geist in Zürich leicht spürbar
Die „Zwinglistadt Zürich“ gibt es dennoch offiziell nicht, das Stadtmarketing setzt andere Akzente. Der Anteil der evangelisch-reformierten Bevölkerung an den 410.000 Einwohnern beträgt gerade noch 22 Prozent. Auf der Südseite des Großmünsters erinnert aber das bronzene Zwingli-Portal an den Reformator. Auch steht auf der gegenüberliegenden Straßenseite, bei der Wasserkirche, seit 1885 zu seinen Ehren ein Denkmal: Zwingli mit Bibel und Schwert – er blickt in Richtung katholische Innerschweiz. Die „Helferei“ – Zwinglis Wohn- und Amtshaus – ist heute ein Kulturhaus und nicht etwa als Sehenswürdigkeit für Touristen herausgeputzt. Die weitgehend im Originalzustand belassene „Zwingli-Stube“ kann für Sitzungen gemietet werden. Dann gibt es noch den Zwingliplatz und eine Bushaltestelle Zwinglihaus.
Auf einem Friedhof findet man Zwingli nicht; er wurde 1531 auf dem Schlachtfeld in Kappel am Albis gevierteilt, verbrannt und seine Asche im Wind zerstreut. Jetzt, im Rahmen der Reformationsfeierlichkeiten, ist sein Geist in Zürich leicht spürbar. Aber das Reformationsjubiläum ist kein Zwingli-Gedenkanlass.
„Die Reformation war nicht das Werk von Ulrich Zwingli allein“, sagt etwa Christoph Sigrist. Er ist der heutige Pfarrer am Großmünster und Botschafter des Reformationsjubiläums. „Zwingli war ein Teamplayer.“ Miteinander reden und überzeugen, das war ihm wichtig. Auch die „Zürcher Bibel“ ist Teamwork; bei der sechs Jahre dauernden Übersetzungsarbeit mitgewirkt hat neben ehemaligen Chorherren auch der Buchdrucker Christoph Froschauer. Man spricht auch von der Froschauer-Bibel; eine Zwingli-Bibel gibt es nicht.
Der heutige Großmünster-Pfarrer ist überzeugt: „Zwingli hätte kein Denkmal gewollt. Er hielt nichts davon, dass man Menschen auf Sockel stellt.“ Zwingli sei auch kein „Held“ gewesen, sondern „ein Realist“, der „feurig für den Glauben“ kämpfte. Wenn er Ungerechtigkeit sah, „ist er explodiert und bekam einen roten Kopf“. Das dürfte wohl auch beim Streit mit Martin Luther über die Bedeutung des Abendmahls der Fall gewesen sein.
Der Streit mit Luther
Luther und Zwingli begegneten sich nur ein einziges Mal. Zuvor kämpften die beiden Theologen schriftlich gegeneinander. Während der deutsche Reformator 1525 an Christi Realpräsenz am Abendmahl festhielt, beharrte sein Schweizer Kollege darauf, dass Brot und Wein lediglich Zeichen seien, die auf Jesu Leib und Blut hinweisen. Das Marburger Religionsgespräch (1529) sollte eine Einigung bringen. Stattdessen kam es zur Trennung, die in die lutherische und die reformierte Kirche führte. Erst 1973 beschlossen die evangelischen Kirchen Europas in der „Leuenberger Konkordie“ die Abendmahlsgemeinschaft.
Noch ein anderes Mahl war bedeutend in Zwinglis Wirkgeschichte. Es fand am 9. März 1522 statt. Im Haus des Buchdruckers Froschauer wurden Würste gegessen. In der Fastenzeit! Der Konflikt mit dem Bischof von Konstanz war programmiert. Der Stadtrat kündigte ein Strafverfahren gegen die Sünder an. Zwingli, der zwar beim Wurstessen dabei war, aber nicht mitgegessen hatte, thematisierte zwei Wochen später das Fastenbrechen in der Predigt und verfasste die Schrift „Von erkiesen und fryheit der spysen“. Darin heißt es: „Willst du fasten, so faste! Willst du nicht gern Fleisch essen, so iss es nicht! Aber lass mir den Christenmenschen dabei frei!“ Das überzeugte das politische Zürich: Die Fastengesetze wurden aufgehoben und Zwinglis Haltung übernommen, wonach nur gelte, was biblisch begründet sei.
Zwingli war kein Zwinglianer
„Zwingli ist hochaktuell“, sagt Großmünster-Pfarrer Sigrist. Das Reformationsjubiläum biete Gelegenheit zur Reflexion – auch über neue Formen des Glaubens; es gelte, innovativ und nachhaltig zu sein. Wie Zwingli. 1522 reformierte dieser auch sein eigenes Leben: Er stellte sich gegen das Priesterzölibat und heiratete nach zwei Jahren wilder Ehe die Witwe Anna Reinhart. Schon vorher lebte er nicht puritanisch. In Einsiedeln hatte der damalige Priester ein Verhältnis mit der Tochter eines Frisörs. Er war lebenslustig, humorvoll, sang und musizierte gerne. Von wegen zwinglianisch! Pfarrer Sigrist räumt mit diesem Klischee auf: „Zwingli war kein Zwinglianer!“ Und viel wichtiger: „Zürich ist reformiert dank Heinrich Bullinger.“
Als Zwingli 1531 auf dem Schlachtfeld starb, war sein Reformationswerk in Zürich nämlich noch nicht gefestigt. Den Grund zu einer freien, dem Evangelium und dem Gewissen verpflichteten christlichen Existenz hat erst sein Nachfolger gelegt. Heinrich Bullinger (1504–1575) stand fast ein halbes Jahrhundert lang der Zürcher Kirche vor. Er bemühte sich zeitlebens um ein friedliches Miteinander von Christen verschiedener Konfessionen, nicht nur in der Schweiz, sondern in ganz Europa, und gilt als „Vater der reformierten Kirche“.
Von Gabriella Hofer (für das christliche Medienmagazin pro)