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Entkirchlicht in Leipzig

Während in der Leipziger Messe beim Willow-Kongress über missionarisch-lebendigen Glauben und die Zukunft der Kirche diskutiert wird, läuft das Leben außerhalb in seinen entkirchlichten Bahnen weiter. Ein Gespräch in der Straßenbahn.

Von Daniel Wildraut

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Ich sitze in der Straßenbahn, Linie 16, die mich vom Messegelände zurück in die Leipziger Innenstadt bringt. Mir gegenüber unterhält sich ein Pärchen, ich schätze sie auf Mitte 30. Sie sprechen über ein Konzert, das sie am Wochenende besuchen wollen: Knorkator, nicht ganz mein Fall. Nun bin ich wahrhaftig kein Vorreiter der Straßen(bahn)-Evangelisation, aber da mir noch der Worship von der Konferenz in den Ohren klingt und die beiden total sympathisch wirken, spreche ich sie an.

Ich frage das Pärchen, ob sie wüssten, was gerade in der Messe los sei. Kopfschütteln. Ich: „Da treffen sich 4.000 Christen, singen von Gottes Liebe und überlegen, wie sie ihren Glauben unter die Menschen bringen können.“ Schweigen, ungläubige Blicke. Knorkator ist eine Satireband. Vielleicht wägen die beiden gerade ab, ob ich Ihnen soeben Realsatire serviert habe. „Was?“, fragt sie. Diesmal nehme ich mir eine halbe Minute Zeit, um die Zusammenhänge zu erklären. „Sie meinen das ernst“, sagt er, aber immer noch mit fragendem Unterton.

Ich hake nach. „Wann waren sie zuletzt in einer Kirche?“ „Vor ein paar Jahren habe ich einem Bekannten aus Erfurt die Thomaskirche gezeigt“, sagt er. „Der wollte sie mal sehen. Wegen Bach und dem Chor.“ – „Und ein Gottesdienst?“ – „Noch nie“, sagt er achselzuckend. Ein Blick zu ihr. „Ich auch nicht.“ – „Warum?“ – „Warum sollte ich? Ich bin nicht religiös. Keiner unserer Freunde ist religiös, glaube ich“. – „Sie sind sich nicht sicher? – „Keine Ahnung, ich spreche nie über Religion. Das spielt keine Rolle für mich.“ Für die beiden muss der Willow-Kongress wie eine Veranstaltung von Aliens wirken. Oder Realsatire.

Konfessionslos glücklich

In Leipzig gibt es knapp 100.000 Kirchenmitglieder – bei 590.000 Einwohnern. Das ist etwas weniger als im sächsischen Schnitt, trotz Bach und Thomanerchor. Nach dem Zweiten Weltkrieg lag der Anteil der Kirchenmitglieder in der Gesamtbevölkerung hier noch bei über 90 Prozent. Inzwischen leben in Sachsen viele bereits in dritter Generation konfessionslos.

Ein befreundeter Pastor hat für diese Situation einmal ein Bild geprägt, das mir heute wieder in den Sinn kam. Menschen wie dieses Paar in der Straßenbahn sind – um das Gleichnis vom verlorenen Sohn aufzugreifen – nicht von zu Hause weggelaufen, sondern sie wurden in der Fremde geboren. Sie sind dabei nicht antichristlich eingestellt, sondern sie haben überhaupt keinen Bezug mehr zu Glauben oder Kirche. Sie sind konfessionslos glücklich – im Widerspruch zu dem christlichen Mantra, das mir früher stets gepredigt wurde.

„Wir werden weniger und unwichtiger“, hat Professor Michael Herbst heute in seinem Impulsreferat beim Kongress gesagt. In manchen Regionen ist dies schon jetzt deutlich sichtbar. In den 80-er Jahren wurden mir evangelistische Besuchsprogramme empfohlen, bei denen am Ende des ersten Treffens planmäßig das Übergabegebet stand. Ja, die Kirche der Zukunft muss missionarisch sein, sonst wird sie nicht mehr sein. Aber wir müssen mit den Menschen leben, ihre Sorgen und Ängste ernst nehmen, uns aufrichtig für sie interessieren, kümmern und helfen. Dann werden sie uns, so Gott will, zuhören.

2 Kommentare

  1. Den „Verlorenen Sohn“ umschreiben“

    Ich bin mir so gut wie sicher, dass Jesus heute das „Gleichnis vom Verlorenen Sohn“ vor den Leuten völlig anders erzählen würde. Denn dieses
    Das „Gleichnis müsste man eigentlich umschreiben, meint hier Daniel Wildraut. Es geht heute eigentlich um jene, die immer in der Fremde lebten, die keine christliche Geschwisterlichkeit erfahren haben und denen jedwedes Wissen fehlt – außer den gängigsten Vorurteilen gegen uns. Modernisiert würde dann aus dem Sohn auch ein Mensch. Ich habe mich allerdings gefragt, wie das mit unseren lieben Zeitgenossen bestellt ist, von denen laut einer aus den 1970er Jahren erstellten Studie – die immer noch zutrifft: Nur 3 bis 5 % der kirchensteuerzahlende Kirchenmitglieder können werden können. Dies sind dann diejenigen die sonntags im Gottesdienst sind, Kreise und Gruppen moderieren, in Chören sowie Kantoreien singen und die wichtige kirchenleitende Aufgaben von der Gemeinde bis zur Landeskirche übernommen haben. Im Unterschied zu den (noch goldenen ??) Jahren damals ist die Kirchenaustrittswelle immens und sie spült vermutlich nicht nur brave Steuerzahler mit weg, sondern bisweilen auch Leute, die sich früher als Jesusnachfolger bekannt haben. Freikirchen sagen es eher hinter vorgehaltener Hand, und schieben es manchmal auf die Pandemie, dass es hier ähnlich stark bröckelt.

    Allerdings muss jeder kritischen Beobachter, wenn er denn aus der Jesus-Nachfolger-Perspektive auf das Geschehen schaut, dass ihm möglicherweise der nicht zwangsläufige Zusammenhang von positiven Frömmigkeitszahlen und der wirklichen Realität auffällt. Da denke ich an unsere noch nicht lange zurückliegende unsägliche Geschichte des Dritten Reiches, einer Zeit guter Kirchenbesuche und fast jeder war in einer Gemeinde Mitglied: Aber der Antichrist aus Braunau am Inn konnte bei eher minimaler Gegenbewegung ein ganzes Volk verführen, mehr als 6 Millionen jüdische und andere Mitmenschen ermorden und sehr viele praktizierende Christinnen und Christen zu Rädchen im Getriebe seines Unrechtsstaates willfährig machen. (Man muss auch nicht aufgeben, bestimmte Menschen durch Kasualien und bei Lebensereignissen zu erreichen).

    Ich würde vorschlagen, dass wir vom Zahlenspiel ablassen und es dahingestellt sein lassen, ob 90 % Mitgliedschaft in den Kirchen eine christliche Gesellschaft generieren kann – und ob ein christlicher Staat christlich sein kann. Mir sind die Worte eines alten Lehrern in Erinnerung, vor allem aber seine Wortspiele. Etwa dass ein Lehrer eigentlich ein Leerer sein muss. Es soll ja Altes und Unnützes aus den Seelen und Köpfen entleeren, mit Erlaubnis der betreffenden, damit neues Denken und vor allem Glauben Raum greifen kann. Vielleicht sind Menschen viel eher mit der besten Botschaft des Universums, von der Liebe Gottes, wirklich erreichbar, wenn sie unbedarft sind. Ich denke da an ein anderes Gleichnis, nämlich jenes von der Einladung zu dem großen Fest und es kommen überhaupt nicht diejenigen, zu welchen die Boten ausgesandt sind. Egal wie unsere Kirchen und christlichen Gemeinschaften organisiert sind und welcher Frömmigkeitsstil hier gepflegt wird: Wir müssen an die Hecken und Zäune gehen in dieser Welt und dabei das Leben ein stückweit mit anderen Menschen teilen. Der schlecht besuchte Gottesdienst findet dann durchaus auch an jenen Orten und Gelegenheiten statt, wo Sonn- und Feiertags Menschen sind. Und die guten Gespräche., die Daniel gerne in Straßenbahnen führt, sind auf fast jedem Ort in dieser Welt möglich. Ich habe immer erlebt, dass sich Menschen gerne mit Glaubensfragen ansprechen lassen, wenn wir es tun und den Mut dazu haben.

    • Ein böser Geist ist in meine Tastatur eingeschlagen. Der Schreibfehlerteufel wollte verhindert dass ich schreibe, dass nur 3 bis 5 % der Kirchenmitglieder von ihrer Kirche erreicht werden können.

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