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Warum vorschnelles Vergeben gefährlich ist

Nachsichtig sein, verzeihen und vergeben – was auf den ersten Blick ähnlich aussieht, sind völlig unterschiedliche Prozesse. Piroska Gavallér-Rothe erklärt, was sich dahinter verbirgt und warum Vergebung Zeit braucht.

Von Piroska Gavallér-Rothe

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Kürzlich kam ein neuer Klient (Situation verfremdet) zu mir. Er berichtete von starken Stimmungsschwankungen und erheblichen Schlafstörungen. Als ich ihn nach jüngsten Ereignissen in seinem Leben fragte, erzählte er, dass er vor knapp drei Monaten unerwartet von seiner Frau verlassen wurde: Während er auf Geschäftsreise war, sei sie mit ihren beiden Kindern ausgezogen. Seitdem ist sie nicht mehr für ihn zu sprechen und kommuniziert nur noch spärlich über Textnachrichten.

In unserem Gespräch wiederholt er immer wieder, dass er nicht verstehe, was seine Frau zu diesem Schritt bewegt habe – für ihn hätte es keine Anzeichen gegeben, dass seine Frau unglücklich sei. Dann aber nimmt das Gespräch eine bemerkenswerte Wendung: Plötzlich erhellt sich sein Gesicht und seine Niedergeschlagenheit ist verschwunden. Er sagt, dass er seiner Frau vergeben habe und keinen Groll gegen sie hege. Er sei dankbar, als Christ mit Gottes Hilfe vergeben zu haben. Das bringe ihm Frieden. Als ich ihn frage, ob ihn der Verlust seiner Familie nicht schmerze, erwidert er: „Natürlich tut das weh, doch meine Vergebung hat mich befreit.“ Während er das sagt, sehe ich Tränen in seinen Augen.

Das Thema Vergebung begegnet mir oft im christlichen Kontext. Im christlichen Glauben ist Vergebung ein zentrales Element, sowohl im geistlichen als auch im zwischenmenschlichen Leben. Sie löst von Schuld und ist ein wichtiger Schritt hin zu innerem Frieden.

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Obwohl ich selbst um die erlösende Kraft der Vergebung weiß, befinde ich mich als Paartherapeutin immer wieder in einem Dilemma: Natürlich würdige ich es, wenn mir ein Mensch erzählt, er sei selbst mit dem schwersten Unglück in Frieden, weil er vergeben konnte. Doch wenn ich dabei Tränen in den Augen sehe, werde ich stutzig. Ist das ein wahrhaftiger und tiefer innerer Frieden?

Nachsicht: Die subtile Kunst der Toleranz

Wenn Menschen sagen: „Ich habe vergeben“, meinen sie oft ganz Unterschiedliches. Für vieles, was uns im Alltag irritiert, braucht es gar keine Vergebung – da genügt Nachsicht.

Nachsicht ist die Fähigkeit, kleine Fehler und Unstimmigkeiten als Teil menschlicher Fehlbarkeit und des alltäglichen Miteinanders zu akzeptieren. Sie bedeutet, die innere Größe zu haben, nicht aus jeder Mücke einen Elefanten zu machen. Nachsicht erfordert eine gesunde Unempfindlichkeit – ohne dabei gleichgültig oder abgestumpft zu sein. Ich nehme wahr, dass etwas nicht stimmig war, doch ich mache kein Drama daraus. Nachsicht ist ein Zeichen von Reife und innerer Gelassenheit. So können wir das Leben und die Menschen mit ihren Unvollkommenheiten annehmen und friedlicher und entspannter miteinander leben.

Ein Beispiel: Mein Mann kommt nach einem langen Arbeitstag nach Hause. Anstatt mir – wie sonst – einen Begrüßungskuss zu geben, fragt er in genervtem Ton, während er sich die Schuhe auszieht: „Wieso quillt die Garderobe schon wieder über?“ Ich bin konsterniert, weil mir ein achtsamer und liebevoller Umgang wichtig ist. Und gerade deshalb kann ich achtsam und liebevoll auf ihn blicken – ihn sehen in seinem Stress und seiner Erschöpfung. Ich entscheide mich, den fehlenden Kuss, den genervten Tonfall und seinen wenig sensiblen Umgang mit der eigenen Unzufriedenheit nicht auf die Goldwaage zu legen. Ich sehe ihm sein Verhalten nach. Nicht, weil es mir gleichgültig ist, sondern weil ich resilient und selbstbewusst genug bin, es nicht persönlich zu nehmen – und so die Mücke einfach Mücke sein lassen kann.

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Anders wäre es, wenn ein solches Verhalten regelmäßig vorkäme und ich es hinnähme, aus Angst, die Harmonie zwischen uns zu gefährden. Dann wäre meine Nachsicht keine innere Stärke mehr, sondern eine ungesunde Form der Selbstverleugnung.

Verzeihen – Der Weg zur emotionalen Versöhnung

Verzeihen geht über alltägliche Nachsicht hinaus. Es betrifft Situationen, in denen uns etwas tiefer trifft – so sehr, dass es nicht mehr reicht, es einfach stehenzulassen. Es ist ein bewusster Prozess, in dem die Verletzung ernst genommen und zum Thema wird. Diesen Weg kann ich für mich allein gehen – als inneres Geschehen. Im besten Fall jedoch ist das Verzeihen eingebettet in einen gemeinsamen Versöhnungsprozess – wie ich ihn in meinem vorangegangenen Beitrag beschrieben habe.

Verzeihen heißt nicht, gutzuheißen, was geschehen ist. Es bedeutet, das Verhalten des anderen im Zusammenhang zu begreifen und zu verstehen – und dadurch innerlich Frieden zu finden.

Ein Beispiel: Mein Mann verkauft unseren Zweit­wagen – ohne mit mir darüber gesprochen zu haben. Es ist ein kleines, geliebtes Cabrio, mit dem ich fast täglich unterwegs bin. Zwar hatten wir in den Wochen zuvor besprochen, dass das Auto zunehmend reparaturanfällig ist und es vermutlich Zeit für einen Ersatz wird. Aber dass er in einer Hau-Ruck-Aktion ein neues kauft, ohne mich zu fragen, erfahre ich erst im Nachhinein. Das neue Auto hat eine bessere Ausstattung, einen unschlagbaren Preis – aber das Dach hat ausgerechnet eine Farbe, von der er weiß, dass ich sie nicht besonders mag.

Ich fühle mich übergangen und bin sauer. Schließlich kommen wir ins Gespräch und wir erklären einander, was passiert ist. Ich erkenne seine Beweggründe – auch wenn ich gerne gefragt worden wäre. Und weil ich ihn verstehe, beginnt auch er, mich zu verstehen. Meinen Unmut, meinen Ärger und mein ungehaltenes Geschimpfe. Auf diese Weise kann sich in uns beiden etwas lösen und wir können uns gegenseitig unser Verhalten verzeihen und uns versöhnen.

Verzeihen oder vergeben?

Beim Verzeihen geht es um Verletzungen, die durch Missverständnisse, Ungeschick, Zeitdruck oder fehlende Sensibilität entstanden sind. Diese können durch Austausch, Einsicht und Verstehen wieder heilen. Wenn wir solche Verletzungen nicht vorschnell als Ausdruck von Bosheit oder Schuld deuten, sondern als Ergebnis von Überforderung, Gedankenlosigkeit, mangelnder Achtsamkeit oder guten Gründen, von denen wir noch nichts wissen, dann gibt es nichts zu vergeben. Stattdessen dürfen wir verstehen und verzeihen. Vergebung bleibt dem vorbehalten, was emotional wirklich schwer wiegt.

Vergebung – ein großer Prozess
für große Verletzungen

Vergebung ist ein großes Wort – und ein noch größerer Prozess. Sie kommt ins Spiel, wenn es um tiefgreifende Verletzungen geht, die existenzielle Ebenen unseres Menschseins berühren. Zum Beispiel:

  • Ein schwerwiegender Vertrauensbruch – etwa eine langjährige Außenbeziehung, die über Jahre hinweg durch Lug und Trug verheimlicht wurde.
  • Gröbste Fahrlässigkeit – wie es im Sommer immer wieder geschieht, wenn ein Kind im Auto vergessen wird und in der Hitze stirbt.
  • Ein Unfall unter Alkoholeinfluss, bei dem das gemeinsame Kind so schwer verletzt wird, dass es dauerhaft pflegebedürftig bleibt.
  • Die langfristige Versagung partnerschaftlicher Zuwendung – etwa fehlende Unterstützung in einer schweren Lebensphase oder anhaltende emotionale Lieblosigkeit.
  • Ein verantwortungsloser Umgang mit der eigenen Gesundheit – etwa fortgesetzter Bewegungsmangel und ungesunde Ernährung trotz eines überstandenen Herzinfarktes.
  • Ein plötzlicher, unkommentierter Kontaktabbruch – besonders innerhalb der Familie oder Partnerschaft, wenn keine Möglichkeit zur Klärung oder Verarbeitung bleibt.
  • Ein Suizid.

Oft sind es nicht nur die Folgen, die schwer wiegen, sondern auch die Tatsache, dass der Mensch, der sie verursacht hat, für eine Aufarbeitung nicht mehr zur Verfügung steht. Weil er tot ist – oder weil er jede Verantwortung für das Geschehen von sich weist.

Existenzielle Verletzungen sind oft traumatische Erlebnisse. Sie sind mit übermächtigen Gefühlen verbunden wie Fassungslosigkeit, Ohnmacht, Wut, Trauer, Panik, überwältigender Angst oder tiefstem Erschrecken. Um wirklich verarbeitet werden zu können, benötigen diese Gefühle Raum. Sie müssen gesehen, gehalten und durchlebt werden.

Bewusst durchleben

Meinen Klienten habe ich durch diesen Prozess begleitet. Fassungslosigkeit: Das brennende Bedürfnis, zu verstehen, was genau geschehen ist: „Warum hat meine Frau mich verlassen – und auf diese Weise?“ Diese Frage quälte ihn und raubte ihm den Schlaf.

Ohnmacht und Wut: Lange hielt er an der Vorstellung fest, er habe seiner Frau bereits verziehen. Doch erst, als er sich von diesem inneren moralischen Druck löste, konnte er spüren, was wirklich in ihm lebte: tiefe Ohnmacht und eine ebenso tiefe Wut darüber, dass ihm durch die abrupte Trennung und den Kontaktabbruch jede Möglichkeit genommen schien, noch etwas bewirken zu können.

Trauer und Schmerz: Der Verlust seiner Familie löste eine existenzielle Trauer aus. Im Laufe unserer gemeinsamen Arbeit zeigte sich, dass es nicht nur um sein tiefes Vertrauen in seine Ehe und den Bruch des Eheversprechens ging, sondern auch um einen zentralen Teil seiner Identität („Ich bin Ehemann und Vater“) und seiner Zukunftsvorstellungen („Ich wollte mit meiner Frau alt werden und sehen, wie unsere Kinder groß werden“).

Wir haben uns all diesen Themen zugewandt. Wir sind seinem Bedürfnis nach Verständnis auf den Grund gegangen. Als wir begannen, verborgene Dynamiken in seiner Ehe zu erkennen, wurde deutlich: Sein tiefes Vertrauen in die Beziehung hatte ihn daran gehindert, die leisen Zeichen seiner Frau wahrzunehmen – ihre wachsende Unzufriedenheit, ihre stille Distanz.

Mit der Zeit gelang es ihm, seine Handlungsfähigkeit zurückzugewinnen. Er schrieb seiner Frau einen offenen Brief und lud sie zu einem begleiteten Gespräch ein – eine Einladung, die sie annahm. Zum ersten Mal keimte in ihr das Vertrauen, dass mein Klient sie mit ihrem Erleben wirklich hören wollte.

Vergebung als christliche Pflicht?

Gerade im christlichen Kontext kann Vergebung leicht zur moralischen Pflicht werden: Als Beweis für Stärke, als Ausdruck von Glauben – oder in der Hoffnung, inneren Frieden zu finden.

Vergebung kann aber auch ein unbewusster Fluchtweg sein, um der Konfrontation mit all den schmerzhaften Emotionen auszuweichen. Wie bei meinem Klienten verlagert sich das unverarbeitete Erleben dann auf andere Ebenen: anhaltende negative Stimmungen, erhöhte Reizbarkeit, Schlafstörungen und psychosomatische Beschwerden wie Kopfschmerzen oder chronische Müdigkeit belasten dann das Leben auf andere Weise.

Bewusste Vergebung fordert eine ehrliche Auseinandersetzung mit dem Geschehenen, dem eigenen inneren Erleben und dem Schmerz. Das kann einen tiefgreifenden Heilungs- und Reifungsprozess bewirken. Vergebung, die all das umfasst, öffnet das Herz. Für andere und für uns selbst. Sie lädt uns ein, barmherzig zu werden, wie auch Gott barmherzig ist. Barmherzig nicht nur mit dem Menschen, der uns verletzt hat, sondern auch barmherzig mit unserem Schmerz und mit uns selbst.

Piroska Gavallér-Rothe begleitet unter anderem Paare durch Krisenzeiten. In ihrem Buch „Wertschätzend Klartext reden“ zeigt sie, wie innere Klärung gelingt und einen ehrlichen, wertschätzenden Austausch möglich macht. https://gavaller-rothe.com


Family Cover 4/25

Dieser Artikel ist in der Zeitschrift FamilyNEXT erschienen. FamilyNEXT ist Teil des SCM Bundes-Verlags, zu dem auch Jesus.de gehört.

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1 Kommentar

  1. Vergebung ist immer Ideal und Permanenz

    Nachsichtig sein, verzeihen und vergeben – was auf den ersten Blick ähnlich aussieht, sind völlig unterschiedliche Prozesse. Piroska Gavallér-Rothe erklärt, was sich dahinter verbirgt und warum Vergebung Zeit braucht.

    Soweit so gut. Was die Paartherapie betrifft, ist alles was sie schreibt sicherlich fachlich und sachlich absolut zutreffend. Auch ihre Unterscheidung zwischen verzeihen und vergeben. Was Jesus vermutlich meinte beim 70×7 mal vergeben, könnte hier eigentlich nicht das Verzeihen als mildere und das Vergeben als große positive Reaktion beschreiben. Vielmehr ist bereits die blose Aufsummierung in 70×7 einerseits sicherlich bildlich zu verstehen, daß hier der Vergebung vieler kleinen und riesengroßen Lieblosigkeiten keinerlei Grenze gesetzt werden darf. Die schiere rechnerische Summe beschreibt ein wenig auch unseren tiefen menschlichem Mangel. Es gibt anscheinend Untersuchungen schon älteren Datums, wie oft hier Menschen durchschnittlich täglich z. B. lügen. Bereits in 60 Minuten könnte dies Dutzende Male sein, vom ganz kleinen Schwindel, bis zum Vertrauensbruch. Auch was ich tunlichst verschweige etwa in Gesprächen, ist eine Art von Unwahrheit. Die Vergebung (nicht immer getrennt in verzeihen und vergeben) hat ihren eigentlichen Hintersinn, daß Gott uns durch den Kreuzestod alle Sünde und Schuld vergab, für alle Zeiten, aber wie ein Gerichtsurteil der irdischen Justiz, als Freispruchs immer unwiderruflich und daher niemals zurückrufbar. Es wurde allen Menschen auf Erden, die je gelebt haben und leben werden, völlig unverdient vergeben. Für Christen ist dies Anlass, durch eigene Vergebung Gott zu danken.

    Wenn uns so vergeben ist, hätte auch unser Mitmensch einen Anspruch darauf, daß wir nie endgültig den Stab über ihm brechen. Es geht ja nicht darum, eine Zuckersoße über böse und gemeine Taten zu legen, sondern von der Haltung her einen Mensch nie aufzugeben, wie dies auch der Himmel niemals endgültig tun wird. Eltern etwa geben auch missratene Kinder nie auf. Dass Vergebung, zumal wenn schlimmes passierte, immer etwas prozesshaftes ist und dann beiden Seiten etwas abnötigt, ist einleuchtend. Ich verurteile niemand, der nicht vergeben kann. Vergebung ist wie die Feindesliebe ein Ideal und eine Annäherung hieran beginnt immer mit einem ersten Schritt. Meine Haltung ist wichtig und die sollte alle Probleme im Dialog angehen, Konflikte nicht zur Lawine werden zu lassen und mit Empathie nicht sparsam umgehen. Auch die Körpersprache kann mehr als Worte deutlich machen, wenn ich wirklich vergebe. Dazu gehört situativ dann auch die Zärtlichkeit.

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