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Vom jüdischen Waisenkind zum Bibelübersetzer und Bischof in China

Joseph Schereschewsky war einer der bedeutendsten Bibelübersetzer in China. Der Weltenbummler ließ sich weder durch Armut noch einer schweren Parkinson-Erkrankung von seiner Mission abbringen.

Von Catharina Bihr

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Wir schreiben den 21. Dezember 1859. In Wusung, einem Hafen nördlich von Shanghai, herrscht trotz der frühen Stunde bereits reges Treiben: Ein Fischer preist lautstark seine fangfrische Ware an, eine Magd schüttet soeben das Wischwasser durch die Tür der Hafenschenke auf die Straße, Hafenarbeiter schleppen Kisten über die Promenade. Auf den im Hafen liegenden Schiffen erwacht die erste Schicht und nimmt ihr Tagwerk auf. Gerade ist die Golden Rule eingelaufen. Das Hafenpersonal schiebt eine Gangway vom Festland hinüber, während Matrosen den Dreimaster am Kai vertäuen. In Wusung ist es kalt, die Wolken hängen tief über der Stadt.

Ankunft in China

Neben der Mannschaft, einigen Reisenden und dem ein oder anderen Händler geht auch ein schwarz gewandeter Pfarrer von Bord. Seit Juli hat er keinen festen Boden mehr unter den Füßen gespürt und stützt sich daher taumelnd an den erstbesten Pfeiler, sobald er das Festland erreicht hat. Endlich am Ziel! Staunend sieht Samuel Isaac Joseph Schereschewsky sich um. Eine völlig neue Welt tut sich vor seinen Augen auf. Häuser aus Holz mit sich am First überkreuzenden Bambusstangen reihen sich aneinander. In der Ferne ragt auf einem Hügel ein pompöses hölzernes Gebäude mit einer riesigen Flügeltür auf, zu dessen Eingang zahllose Stufen führen. Ein Tempel? Oder gar ein Palast? Dazwischen immer wieder gewaltige steinerne Gebäude, von Europäern erbaut. Soldaten der britischen Marine patrouillieren vor dem Hafenkontor; seit 1842 ist der Hafen in britischer Hand. Die meisten Menschen tragen jedoch lange, bunte Gewänder und haben ihr Haar im Nacken zu einem Zopf gebunden. Auf den Köpfen sitzt ein Hut in Form eines sehr flachen Kegels, die Augen sind im Vergleich mit denen Schereschewskys schmale Schlitze.

Da tritt ein zweiter Pfarrer hinzu: William Jones Boone, seit 1844 Bischof von Shanghai, der ebenfalls an Bord der Golden Rule war. Er winkt seinem Mitarbeiter, der seit einigen Tagen jeden Morgen am Hafen Ausschau nach dem Schiff mit Bischof Booen an Bord Ausschau hält. Nun schon etwas sicherer auf den Beinen, geht Schereschewsky auf den Europäer zu. „Sind Sie der neue Pfarrer und Übersetzer?“, wird er von dem Herrn begrüßt. Schereschewsky nickt. „Sehr erfreut“. Der Mann greift nach Schereschewskys kleinem Koffer und weist mit der freien Hand auf die Straße, die vom Hafen in die Stadt zu führen scheint. „Bitte folgen Sie mir“.

Als Schereschewsky im Winter 1859 in Shanghai, China, ankommt, ist er weder ein besonders erfahrener Pfarrer noch ein bis dahin sehr renommierter Übersetzer. Er ist zu dem Zeitpunkt 28 Jahre alt. Erst kurz vor seiner Abreise im Juli desselben Jahres war er von seinem Freund und Mentor Bischof Boone in New York ordiniert worden. Nur wenige Tage später waren Schereschewksy und Bischof Boone in See gestochen. Erst auf dem Schiff hatte Schereschewsky sich ein paar Brocken der chinesischen Landessprache angeeignet. Dafür blieben ihm mehrere Monate Zeit, denn eine Reise von den USA bis nach China dauerte bis zu acht Monate.

Ein Jude, der Jesus als Messias kennenlernte

Lange Seereisen sind dem jungen Theologen nicht fremd. Er reiste bereits einige Jahre zuvor von Europa in die USA. Überhaupt ist Schereschewsky Zeit seines Lebens viel herumgekommen: Geboren wurde er 1831 in Litauen als Sohn jüdischer Eltern, wo er bereits in jungen Jahren verwaiste und fortan vermutlich von einem wohlhabenden Halbbruder erzogen wurde. Dieser ließ ihm eine gute Bildung angedeihen; es war geplant, dass Schereschewsky Rabbiner werden sollte. Mit 15 Jahren verließ er das Haus seines Bruders und ging an die Rabbiner-Schule in Schytomyr in der Ukraine. Währenddessen verdiente sich als Tutor und Glaser seinen Lebensunterhalt. Mit 19 Jahren verschlug es Schereschewsky nach Frankfurt in Deutschland, ein Jahr später nach Breslau in Polen.

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Erste Berührungspunkte mit dem Christentum hatte er in Deutschland, wo ihm ein Neues Testament auf Hebräisch in die Hände fiel. Sollte Jesus doch der im Alten Testament verheißene Messias sein? 1854, mit 23 Jahren, emigrierte Schereschewsky in die USA, zunächst nach New York. Vielleicht war es seine jüdische Herkunft und der aufkeimende Antisemitismus in Europa, speziell in den russischen Staaten, die ihn zu diesem Schritt bewogen. Dort begegneten ihm zum ersten Mal messianische Juden. Kurze Zeit später war er schließlich überzeugt: Ja, Jesus war nicht nur ein Prophet, er ist der Sohn Gottes! 1855 ließ Schereschewsky sich taufen und schloss sich einer Baptistengemeinde an. Zum Studium ging er nach Pennsylvania. Um Antisemitismus zu umgehen, legte er seinen Nachnamen ab und wurde unter dem Namen Samuel Isaac Joseph immatrikuliert. Nach etwas mehr als zwei Jahren setzte er sein in New York fort.

Ein Suchender auf Reisen

Schereschewsky scheint ein Mann auf der Suche gewesen zu sein. Binnen weniger Jahre wechselte er mehrmals die Kirchenzugehörigkeit. Klar ist, dass Schereschewsky ein hochintelligenter, vor allem sprachbegabter Mann gewesen sein muss. Neben seiner Muttersprache Russisch bzw. Litauisch sprach er außerdem Deutsch, Jiddisch, Englisch, Polnisch und zuletzt auch noch Chinesisch. Neue Sprachen eignete er sich rasch an. Am Ende seines Lebens sprach er 13 Sprachen und konnte Texte in 20 Sprachen lesen. Außerdem scheint er viele Interessen gehabt zu haben, arbeitete als Glaser sowie als Privatlehrer. Ein Generalist? Einer, den der frühe Tod der Eltern zu früher Selbstständigkeit gezwungen hatte?

Während seines Studiums in New York entschloss Schereschewsky sich, als Missionar nach China zu gehen. Es ist anzunehmen, dass Bischof William Boone senior den ausschlaggebenden Impuls hierfür gab. Er war der erste episkopale Bischof Chinas und Japans und bereits seit 1837 Missionar in China. Nachdem er zunächst auf der Insel Kulangsu (vor Amoy, heutiges Xiamen im Süden von China) eine erste Kirche gegründet hatte, verlegte er 1845 das Zentrum seiner Mission nach Shanghai. Dorthin wollten Boone und Schereschewsky 1859 reisen. Es wurde entschieden, dass Schereschewsky sein Studium zwei Jahre vor seinem geplanten Abschluss beenden sollte und bereits kurz nach seiner Ordination ausreisen würde. So machte er sich vermutlich im Hochsommer 1859 zusammen mit seinem Mentor Boone auf die lange Reise nach Shanghai.

Mitarbeit in der noch jungen China-Mission

In China fand Schereschewsky ein Land vor, in dem die christliche Mission gerade erst wieder vorsichtige erste Schritte wagte. Nachdem im 17. und 18. Jahrhundert durch die Arbeit von europäischen Missionaren eine kleine christliche Gemeinschaft in China entstanden war, fand die Ausübung des christlichen Glaubens in China 1724 ein jähes Ende: Der damalige Kaiser Yongzheng verbot das Christentum in China. Christliche Gemeinden in China verschwanden daraufhin im Untergrund, existierten jedoch weiterhin. Ausländische Missionare wurden des Landes verwiesen.

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Erst 1807 begannen vereinzelt britische und deutsche Gläubige, die in China als Übersetzer arbeiteten, ihren Glauben wieder weiterzugeben. Um diese Zeit herum wurde in Großbritannien die „Chinesische Evangelisationsgesellschaft“ gegründet, die im 19. Jahrhundert zahlreiche Gläubige nach China in die Mission entsandte. Die Missionare gingen dieses Mal anders vor als zuvor: Sie kleideten sich auf chinesische Art und übernahmen die Traditionen ihrer chinesischen Freunde, um so ihr Vertrauen zu gewinnen und ein „chinesisches Christentum“ zu etablieren. Es ist wahrscheinlich, dass Schereschewsky bei seiner Ankunft in China 1859 bereits einige europäische sowie ein paar amerikanische Christen in Shanghai vorfand, die ihn in seiner Arbeit unterstützten.

Übersetzer – dann auch Bischof

Gleich nach seiner Ankunft nahm Schereschewsky seine Arbeit als Übersetzer auf. Er war in einem Team mit Boone und weiteren Missionaren der Erste, der christliche Schriften ins Chinesische übersetzte und dadurch der chinesischen Bevölkerung einen Zugang zu christlichen Inhalten ermöglichte. Bereits 1861, nur wenige Monate nach seiner Ankunft im fremden Land, hatte er das erste Buch, die Psalmen, auf Mandarin übersetzt. Es folgten weitere Teile der Bibel sowie das wichtigste liturgische Buch der anglikanischen Kirche, The Book of Common Prayer. Er beschäftige zwei chinesische Kopisten und arbeitete regelmäßig den kompletten Tag bis in die Nacht hinein. Durchaus zum Unwillen seiner Frau Susan Mary. Seine Arbeit ist bis heute für die Christen in China von größter Bedeutung. Ein Zeitgenosse nannte Schereschewsky den „größten Bibelübersetzer, den China je hatte“.

1875 wurde Schereschewsky aus gesundheitlichen Gründen gezwungen, in die USA zurückzukehren. Eine Berufung zum Bischof von Shanghai lehnte er zunächst ab. Denn er hatte einen Traum: Er wollte ein College in China gründen, und hierfür fehlten ihm noch die finanziellen Mittel. Zwei Jahre später hatte er die benötigte Unterstützung beisammen und willigte ein, Channing Moore Williams in seinem Amt als Bischof von Shanghai abzulösen. 1877 wurde er zum Bischof von Shanghai geweiht. Dieses Amt hatte er bis 1883 inne, ehe er – wiederum auf Grund seiner angegriffenen Gesundheit – zurücktrat.

Eine Universität wird gegründet

1877 gründete Schereschewsky zusammen mit William Jones Boone Junior (dem Sohn seines Mentors) das St. John’s College in Shanghai. Hierbei wurden zwei bereits existierende anglikanische Colleges kombiniert. Das erste Studienjahr wurde mit 39 Studenten aufgenommen. Das College wurde in einem quadratischen Gebäude untergebracht, das europäischer Architektur nachempfunden war, jedoch auch traditionell chinesische Elemente enthielt. Neben Boone und Schereschewsky spielte die Missionarin Lydia Mary Fay eine wichtige Rolle bei der Weiterentwicklung der Universität: Sie gründete die Duane Hall mit, eine weiterführende Schule, die später Teil der St. John’s University wurde. In den ersten Jahren wurde dort hauptsächlich auf Chinesisch unterrichtet, erst ab 1891 auf Englisch. In diesem Jahr begannen sich die Kurse auch auf Naturwissenschaften und Philosophie zu konzentrieren.

1905 wurde das College zur University. Dies erlaubte es den Studierenden, nach ihrem Abschluss an amerikanische Hochschulen zu wechseln und der Abschluss wurde international anerkannt. Dadurch zog die St. John’s University einige der begabtesten und wohlhabendsten Studenten dieser Zeit an. Sie gehörte zu den ältesten und prestigeträchtigsten Universitäten des Landes, wurde gar als das „Harvard Chinas“ bezeichnet. 1952 wurde der Unterricht nach der Gründung der Chinesischen Republik von Kommunisten eingestellt.

Mit zwei Fingern an der Schreibmaschine

Mit 50 Jahren, 1881, erkrankte Schereschewsky an Parkinson, einer Nervenschädigung, die zum Ausfall des Bewegungsapparates und zu unkontrolliertem Zittern führt. Außerdem erlitt er im selben Jahr einen Hitzschlag. Von 1883 bis 1895 lebte er deswegen in den USA. Es ist nicht überliefert, welche Symptome Schereschewksy im Einzelnen ertragen musste, doch man weiß, dass er zuletzt nur noch einen einzigen Finger an seiner rechten Hand gebrauchen konnte und dass er einen Rollstuhl benutzte. Ein Biograph schreibt: Schereschwesky „war in jedem seiner Gliedmaßen gelähmt, und obwohl er seine Sprachfähigkeit zum Teil verloren hatte, tippte er langsam und unter Schmerzen mit nur zwei Fingern seine Übersetzung des Alten Testaments in Mandarin und seine Übersetzung der ganzen Bibel [in einen anderen chinesischen Dialekt].“ Über diese Zeit sagt Schereschewsky selbst kurz vor seinem Tod: „Ich habe über 20 Jahre in diesem Stuhl gesessen. Anfangs war mir das sehr schwer. Doch Gott wusste, was das Beste für mich ist. Er hat mich für die Arbeit behalten, die am besten zu mir passt.“

In seinem letzten Lebensjahrzehnt machte der damals schon schwer kranke Schereschewsky eine letzte Reise und emigrierte nach Tokio, Japan. Wir können heute nur rätseln, was ihn dorthin führte. Es ist jedoch nicht ungewöhnlich gewesen, dass Missionare, die zunächst in China dienten, später in Japan arbeiteten.

Samuel Isaac Joseph Schereschwsky starb am 15. Oktober 1906 in Tokio, wo er neben seiner Frau beigesetzt ist. Zum Zeitpunkt seines Todes hatte er die Bibel zwei Mal komplett in zwei verschiedene chinesische Dialekte übersetzt. Kirchenleitung, Bildungsarbeit, Bibelübersetzung – das Leben eines einfachen und oft kranken Mannes hat Spuren gezogen, die bis heute nachwirken.

Catharina Bihr ist Bildungsreferentin, arbeitet mit FSJlern und engagiert sich im CVJM.


Dieser Artikel ist in der Zeitschrift Faszination Bibel erschienen. Faszination gehört wie Jesus.de zum SCM Bundes-Verlag.

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4 Kommentare

    • Wenn einer weiß, warum alles so gekommen ist. Wenn einer die absolute Wahrheit kennt. Wenn einer die Zukunft vorhersagen kann.
      Wenn einer weiß, was unser aller Glück zu sein hat. Dann handelt es sich um einen Menschen, der eine Ideologie besitzt, die alles Weltgeschehen aus einem Punkt erklärt.

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