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Evangelische Kirche: Zentrale Ergebnisse der Missbrauch-Studie

Schlechter Umgang mit Betroffenen, schleppende Bearbeitung, hinderliche Strukturen: Die Studie zu sexualisierter Gewalt innerhalb der Evangelischen Kirche stellt den Verantwortlichen in mehrerlei Hinsicht ein schlechtes Zeugnis aus.

Mit der am Donnerstag veröffentlichten ForuM-Studie ist erstmals für die evangelische Kirche und die Diakonie eine unabhängige Forschungsarbeit über Ursachen und Häufigkeit von Missbrauch veröffentlicht worden. Die Forscher gehen von mindestens 1.259 Beschuldigten, darunter 511 Pfarrpersonen, und mindestens 2.225 Betroffenen für den Bereich der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und der Diakonie aus. Außerdem attestieren sie der evangelischen Kirche einen mangelhaften Umgang mit Betroffenen, eine Blockade-Haltung bei der Aufarbeitung und nicht funktionierende Schutzkonzepte. Das Vorgehen und die Erkenntnisse im Einzelnen:

Unzureichende Datenlage:
Vor allem bei der Erhebung von Fallzahlen und Beschuldigten, für die das Teilprojekt E unter der Leitung des Mannheimer forensischen Psychiaters Harald Dreßing zuständig war, hatten es die Forschenden mit einer schwierigen Datenlage zu tun. Denn zum einen wurden Akten über Missbrauchsfälle nur sehr unzureichend geführt. So gab es keine verbindlichen Regeln zur Dokumentation. Auch von «inoffiziellen Sammlungen» oder «Kisten mit problematischen Inhalten» in einigen Kirchenämtern ist die Rede. Nicht auszuschließen ist laut Studie, dass Akten vernichtet oder manipuliert wurden.

Die Forscher berichten aber auch von Schwierigkeiten bei der Erhebung. Denn dabei waren sie auf die Zuarbeit der Landeskirchen und Diakonie-Landesverbände angewiesen, die eigene Mitarbeitende mit der Aktendurchsicht beauftragten. So gehörte ursprünglich eine stichprobenartige Durchsicht von Personalakten zum Forschungsdesign. Da sich einige Landeskirchen jedoch dazu personell nicht in der Lage sahen, fand diese nicht statt. Es wurden stattdessen nur sogenannte Disziplinarakten für Pfarrer (4.282) durchgesehen. Damit ergibt sich eine erheblich geringere Quellenlage als etwa bei der 2018 vorgestellten katholischen MHG-Studie, die Dreßing damals leitete. Dort seien über 38.000 Personalakten für Priester durchgesehen worden. Daher würden die Fallzahlen in den Landeskirchen erheblich unterschätzt, bemängeln die Forscher, und bildeten allenfalls die „Spitze der Spitze des Eisbergs“.

Betroffene:
In den vorläufig 2.225 ermittelten Missbrauchsfällen war die Mehrheit der Betroffenen unter 14 Jahre alt. Die Taten waren laut Studie meist geplant und fanden mehrfach statt. Nach einer Schätzung der Forscher liegt die tatsächliche Zahl der Betroffenen jedoch deutlich höher. Die Forscher sprechen von 9.355 möglichen Betroffenen, die eine Durchsicht der Personalakten hätte ergeben können.

Die Schwere reicht von Taten ohne direkten Körperkontakt (Aufforderung zum Ansehen pornografischen Materials) bis hin zu analer oder genitaler Penetration, was dem Straftatbestand einer Vergewaltigung entspricht. Besonders gefährdet waren Kinder und Jugendliche, die sich in geschlossenen Institutionen befanden, etwa in Heimen oder auch im Pfarrhaus. Während bei den Fällen in der Diakonie die Opfer mehrheitlich männlich waren, ergibt sich in den Fällen, in denen die Täter Pfarrer waren, ein höherer Anteil von Mädchen und jungen Frauen. Tatorte waren Gemeinden, etwa im Musik- oder Konfirmandenunterricht, Heime, Pflegeheime, die Jugendarbeit, Pfarrfamilien, Schulen und Internate.

Umgang mit Betroffenen:
Betroffene erlebten zumeist kaum Unterstützung und mangelnde Sensibilität, wenn sie bei kirchlichen Stellen Taten anzeigten. Ihre Darstellung wurde laut Studie angezweifelt, die Beschuldigten geschützt. Betroffene wurden zudem mit Wünschen nach Vergebung konfrontiert, ohne dass eine angemessene Auseinandersetzung mit der Tat stattfand.

Beschuldigte:
Die Beschuldigten waren überwiegend männlich, im Durchschnitt 39,6 Jahre alt und verheiratet zum Zeitpunkt der ersten Tat. Wie die Forschenden ermittelten, waren viele Täter auch Mehrfachtäter. Auf einen Mehrfachbeschuldigten kommen demnach fünf Betroffene. Gegen knapp 61 Prozent der beschuldigten Pfarrer wurde mindestens ein Disziplinarverfahren geführt. Gegen 45,4 Prozent gab es eine Anzeige.

Großer Nachholbedarf bei Aufarbeitung

Kirchliche Haltung zur Aufarbeitung:
Laut Studie wurde das Thema Aufarbeitung von Missbrauch in der evangelischen Kirche und der Diakonie erst spät, nämlich 2018, öffentlich angepackt. Bei der Aufarbeitung und auch bei der Prävention sehen die Forscher aber großen Nachholbedarf. Fast immer waren es demnach Betroffene, die Aufarbeitung verlangten und initiierten. Die evangelische Kirche müsse Missbrauch endlich als Teil der eigenen Geschichte und Gegenwart verstehen, so das Resümee der Forscher. So wurde von sexuellem Missbrauch als Problem in den eigenen Reihen abgelenkt: Das sei nach Auffassung der Institution ein systematisches Problem der katholischen Kirche wegen des Zölibats, der Sexualmoral und strengen Hierarchien. Wenn es Fälle in der evangelischen Kirche gebe, dann in Heimen der Diakonie in den 50er und 60er Jahren, sowie durch die Liberalisierung des Umgangs mit Sexualität in den 70er und 80er Jahren.

Diesen Erzählungen und Auffassungen widerspricht die Studie. Nicht etwa der Zeitgeist sei Ursache für die Taten, sondern Täter nutzten die jeweiligen Umstände aus, um ein Macht- und Gewaltsystem zu etablieren.

Empfehlungen:
Die Forscher bekräftigen, dass Betroffene ein Recht auf Aufarbeitung haben. Die Forscher kommen zu dem Schluss, dass die föderale Struktur der EKD und ihrer Gliedkirchen ein Hindernis für die Aufarbeitung ist. Die Forscher regen zudem kirchenunabhängige Ansprechstellen für Betroffene und eine externe Ombudsstelle für Betroffene an, an die sie sich wenden können, wenn es Probleme gibt. Außerdem empfehlen sie die Einführung einer umfassenden, verbindlichen Aktendokumentation und Statistik. Letztlich sei auch eine Personalaktenanalyse unabdingbar für eine transparente Aufarbeitung.

Weiterlesen: Großes Ausmaß von Missbrauch in evangelischer Kirche

Quelleepd

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5 Kommentare

  1. Ich erwarte keinerlei christlichen Umgang mit mir

    Wahrscheinlich bin ich es, der den Ehrentitel des Oberlehrers verdient. Ich schreibe immer aber nur meine Meinung und Irrtümer gebe ich auch zu. Daher ich bin nicht bereit meine Kleider zu zerreißen und Asche über mein Haupt zu streuen. Und „w a s“ habe ich nicht verstanden, wenn ich denn hier gemeint bin? Ich erwarte keinerlei christlichen Umgang mit mir, habe aber wenigstens die Erwartung, auf Meinung eine Meinung zu erfahren und diese auch in der Annäherung an Sachlichkeit. Dass sexueller Missbrauch furchtbar ist, wird wohl niemand bestreiten. Aber man darf nicht zwei Augen verschließen vor der Tatsache, dass von dieser Entgleisung in Richtung brutaler Gewalt „a l l e Milieus“ betroffen sind, in denen nähere menschliche Beziehungen gepflegt werden. Wer dies bestreitet, dem kann man durchaus auch das Motiv einer gewissen Schadenfreude unterstellen, dass nun die Scheinheiligen einer angeblich viel zu unfrommen Kirche es endlich verdient haben in den Sack zu kommen und verbal geprügelt zu werden. An den Pranger zu stellen, wo auch unsere schlimmsten Gegner nicht hingehören, dürfen nur diejenigen die auch definitiv verdrängt, verschwiegen und verschlampt haben. Aber nicht Leute die wenigstens ich als meine Geschwister ansehe, und die nichts dafür können. Auch in vielen deutschen Kirchenleitungen sitzen nicht ausschließlich Wölfte in Schafsfellen, die gerne von den Schafen in Wolfsfellen attackiert werden in Vorausverurteilungen. Alle Psychologe und zumal die Soziologen belegen jederzeit, dass Missbrauch erstens Gewalt ist und zweitens uns mindestens als Menschen genauso immanent ist, seit wir unsere Nester nicht mehr auf Bäumen bauen und erst als wir sesshaft wurden. Zudem weiß man auch, dass der Missbrauch oft beginnt, wenn Menschen ihre Empathie als Waffe benutzen neben ihrer Macht, die ihnen dazu nicht vom Himmel verliehen wurde. Jeder der ohne Sünde ist, der werfe gerne den ersten Stein auch auf mich. Wohlan !

  2. Zutiefst entsetzt und ich habe mich geirrt

    Ich will gar nicht drum herumreden, ich habe meine Ev. Kirche immer verteidigt. Allerdings war ich auch 38 Jahre in einem Kirchenvorstand einer Kirchengemeinde in der EKHN und dort gab es niemals auch nur im Ansatz einen solchen Verdacht, zumal sich Gerüchte oder dergleichen schnell in jeder Kleinstadt verbreiten. Ich will also nichts verharmlosen, aber gleichzeitig darf man nicht alle Christinnen und Christen unter einen bösen Kollektivverdacht stellen. Dass der Missbrauchsskandal aufgeklärt werden muss, versteht sich von selbst. Es bleibt aber immer noch so, dass dies genauso auch ein wirkliches gesamtgesellschaftliches Problem ist, nicht nur eines der Katholiken und der Evangelischen. Ich halte auch für fragwürdig Missbrauchsfälle fiktiv hochzurechnen. Vor 40 Jahren haben Kolleginnen in meiner Dienststelle der Diakonie ein Plakat aufgehängt mit einer plakativen Botschaft, jeder 3. Mann sei ein Missbrauchstäter bei Kindern. Dies hatte nichts mit meiner Person zu tun, ich war nur fast der einzige männliche Mitarbeiter. Ich habe damals mich vehement gegen Verallgemeinerung gewehrt und dieses Plakat wurde selbstverständlich wieder abgehängt. Ich bitte dann einmal auszurechnen, wenn diese Zahlenarithmethik 1983 stimmte, wie viele erwachsene Sexualstraftäter es dann bundesweit gibt. Dies soll nichts verharmlosen, ich bin zutiefst erschrocken und zornig und dieser Missbrauch hat zu aller erst die Kinder und Jugendlichen als Opfer, weitere Opfer sind eigentlich alle anständigen Menschen, egal ob sie Atheisten sind, nur die Kirchensteuer zahlen oder auch in der Kirche aktiv sind. Aber aus der Welt, der Gesellschaft oder vielleicht zuerst aus der Kirche auszutreten kann keinesfalls eine Lösung sein. Probleme sind dazu da, auch gelöst zu werden, was nicht perfekt geht aber umfänglich. Ich bitte nur um eine sodann faire Diskussion, dieses Missbrauchsproblem hat nichts mit theologischen Richtungen zu tun, sondern mit Menschen wie Adam und Eva, die absolute Grenzen von Gut und Böse überschreiten und für sich individuell umdefinieren. Dies ist immer katastrophal und damals sah man das als Sündenfall an.

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