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Studie: Großes Ausmaß von Missbrauch in evangelischer Kirche

Die Studie zu sexualisierter Gewalt innerhalb der Evangelischen Kirche liefert erschütternde Ergebnisse. Dabei dürfte die Dunkelziffer aufgrund der eingeschränkten Quellenlage noch weit höher liegen.

Sexualisierte Gewalt gegen Kinder und Jugendliche hat es in der evangelischen Kirche in größerem Ausmaß gegeben als bislang bekannt. Ein von der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) beauftragtes unabhängiges Forscherteam stellte am Donnerstag in Hannover seine Studie vor, in der von mindestens 2.225 Betroffenen und 1.259 mutmaßlichen Tätern die Rede ist.

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Das sei jedoch nur die „Spitze der Spitze des Eisbergs“, hieß es. Es gebe Kenntnisse über weitere Fälle, die aufgrund fehlender Informationen nicht hätten strukturiert erfasst werden können, heißt es in der Mitteilung des Forscherteams. Der an der Studie beteiligte forensische Psychiater Harald Dreßing sagte, aus den 20 Landeskirchen habe es lediglich eine „schleppende Zuarbeit“ gegeben. Nur eine Landeskirche lieferte wie vereinbart die Daten aus Personalakten, während alle anderen Landeskirchen sowie die Diakonischen Werke dem Forschungsteam lediglich Details aus Disziplinarakten über Beschuldigte zur Verfügung stellten. Es sei dann „aus der Not geboren“ worden, sich im Wesentlichen auf die Auswertung von Disziplinarakten zu beschränken, anstatt großflächig Personalakten zu analysieren. Das Forschungsvorhaben hätten die Wissenschaftler daher nicht vollständig umsetzen können.

Während der Wissenschaftler nicht von einer Verweigerung der Landeskirchen bei der Zuarbeit sprechen wollte, äußerte die Missbrauchsbetroffene Katharina Krach scharfe Kritik. „Die Landeskirchen verhindern Aufarbeitung“, sagte Kracht, die dem früheren Betroffenenbeirat der EKD angehörte und Mitglied im Beirat der Studie war. Die amtierende EKD-Ratsvorsitzende Kirsten Fehrs sagte zur lückenhaften Datengrundlage: „Ich weiß, dass die Forschenden unzufrieden waren und sind. Wir nehmen die Kritik an.“ Es sei klar, dass die evangelische Kirche zu einer einheitlichen Falldokumentation kommen müsse. Künftig gezielt auch Personalakten anzuschauen, sei evident. „Wir haben diese Studie gewollt, wir haben sie initiiert und wir nehmen sie an, mit Demut“, sagte sie.

In einer „sehr spekulativen, nicht wissenschaftlichen“ Hochrechnung, die aus Sicht des Forscherteams mit „sehr großer Vorsicht“ betrachtet werden müsse, ergäbe sich eine Zahl von insgesamt 9.355 Betroffenen bei geschätzt 3.497 Beschuldigten. Bislang war nur bekannt, wie viele Betroffene sich in den vergangenen Jahren an die zuständigen Stellen der Landeskirchen gewandt haben. Nach Angaben der EKD waren das 858.

„Diffusion von Verantwortung“

Die Studie zeigt den Angaben zufolge, dass es evangelische Besonderheiten gibt, die sexualisierte Gewalt ermöglichen und begünstigen können. Dazu zählten eine „Diffusion von Verantwortung“, der übermäßige Wunsch nach Harmonie, eine fehlende Konfliktkultur sowie „die Selbsterzählung der Fortschrittlichkeit“. Das blockiere auch Aufarbeitungsversuche. Dabei zeige die Studie „deutlich“, dass sexualisierte Gewalt in der evangelischen Kirche nicht reduzierbar auf bestimmte lokale oder zeitliche Umstände sei wie beispielsweise die frühere Heimerziehung oder den liberalen Sexualitätsdiskurs der 1970er Jahre. Täterstrategien konnten sowohl in „linksliberalen“ als auch in „konservativen“ Milieus – ihre Wirkung entfalten.

Die Aufarbeitung sei in den meisten Fällen nur „reaktiv“ erfolgt, sprich: nur durch das Engagement Betroffener.

Bischöfin Fehrs äußerte sich erschüttert über „diese abgründige Gewalt“ gegen Kinder und Jugendliche und sprach von einem „eklatanten Versagen“ in Kirche und Diakonie. Sie bat die Betroffenen um Entschuldigung: „Wir haben uns auch als Institution an unzählig vielen Menschen schuldig gemacht. Und ich kann sie, die sie so verletzt wurden, nur von ganzem Herzen um Entschuldigung bitten.“ Diese Bitte um Entschuldigung könne nur glaubwürdig sein, „wenn wir auch handeln und mit Entschlossenheit weitere Veränderungsmaßnahmen auf den Weg bringen“.

„Föderale Struktur verhindert Aufarbeitung“

Betroffene sexualisierter Gewalt haben von der evangelischen Kirche Konsequenzen aus den Ergebnissen der Studie gefordert. Die Studie zeige, dass der Föderalismus der evangelischen Kirche „ein Grundpfeiler für sexualisierte Gewalt“ sei, sagte Detlev Zander, der Betroffenenvertreter im Beteiligungsforum der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). Die föderale Struktur verhindere Aufarbeitung. Zander forderte eine übergeordnete Stelle: „Es kann nicht sein, dass jede Landeskirche machen kann, was sie möchte.“

Auch Katharina Kracht kritisierte, die EKD sei „eigentlich ein zahnloser Tiger“. Sie forderte Unterstützung des Staates bei der Aufarbeitung. „Die Kirche ist für die Betroffenen kein Gegenüber“, sagte sie mit Blick auf Ergebnisse der Studie, wonach Betroffene oftmals keine hilfreiche Reaktion der evangelischen Kirche erlebt haben. Benötigt würden externe Stellen, an die sich Betroffene wenden können, sagte Kracht.

Kritik an eingeschränkter Quellenlage

Schon im Vorfeld der Veröffentlichung hatte es Kritik an der eingeschränkten Quellenlage gegeben. Nach Recherchen des ARD-Magazins Monitor seien viele Fälle nicht untersucht worden. Zur Begründung hieß es, die Landeskirchen hätten nicht genügend Personal zur Verfügung, um die Daten bereitstellen zu können. „Wenn die Landeskirchen und die Diakonie Personalakten nicht zur Verfügung stellen, müssen sie sich die Frage gefallen lassen, ob sie den Missbrauch in der evangelischen Kirche wirklich umfassend aufarbeiten wollen“, kritisierte der Kölner Staatsrechtsprofessor Stephan Rixen, der nicht an der Studie beteiligt war, gegenüber Monitor. Es sei „absurd“, dass nicht alle Personalakten untersucht würden.

Dies war 2018 bei der MHG-Studie zu Missbrauch in der Katholischen Kirche anders gewesen. Damals hatten die Forschenden rund 40.000 Personalakten auswerten können. Es könnten „keinerlei Vergleiche“ mit der katholischen Kirche oder anderen Institutionen gezogen werden, sagte der Koordinator der Studie, Martin Wazlawik. Die Zahlen legten in keiner Weise eine geringere Zahl an Beschuldigten in der Evangelischen Kirche und Diakonie nahe.

Weiterlesen: Zentrale Ergebnisse der Missbrauch-Studie

epd-Video: „Die Spitze des Eisbergs“

Hintergrund:

Die ForuM-Studie besteht aus fünf themenbezogenen Teilprojekten und einer Meta-Studie. Ziel der Studie ist es, eine empirische Grundlage für die Aufarbeitung sexualisierter Gewalt in den 20 evangelischen Landeskirchen, der EKD und der Diakonie zu legen. Dazu wurden neben Fallzahlen auch strukturelle Ursachen für Missbrauch und der Umgang mit Betroffenen erforscht. Betroffene waren zum Teil auch selbst als Co-Forschende beteiligt oder wurden zu ihren Erfahrungen interviewt.

Der Forschungsverbund wird von Professor Martin Wazlawik von der Hochschule Hannover koordiniert, der sich auf Kinder- und Jugendhilfe spezialisiert hat. An dem Forschungsverbund ForuM sind zudem die Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg, die Bergische Universität Wuppertal, die Freie Universität Berlin, das Institut für Praxisforschung und Projektberatung München, das Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, das Zentralinstitut für Seelische Gesundheit Mannheim sowie die Universität Heidelberg beteiligt.

Im wissenschaftlichen Beirat der Studie sitzen auch Vertreter der EKD und von Betroffenen. Für die EKD wirkt unter anderem die kommissarische Ratsvorsitzende Kirsten Fehrs in dem Gremium mit, die im November nach dem Rücktritt ihrer Vorgängerin Annette Kurschus an die Spitze der EKD rückte. Die Betroffenen sind vertreten durch Detlev Zander, Sprecher der Betroffenen im Beteiligungsforum in der EKD, sowie Katharina Kracht, die dem 2021 gescheiterten Betroffenenbeirat angehörte.

Quelleepd

12 Kommentare

  1. Da fragt man sich ernsthaft: „Was ist in diesem Land schief gelaufen?“
    Wann begann der Abfall von Gott?

  2. Den Sammelbegriff „sexuelle Gewalt“ halte ich für irreführend. Geht es da wieder um die obskure „psychische Gewalt“? In wie vielen Fällen ist den Kindern/Jugendlichen erst nachträglich von anderen eingeredet worden, das sei aber was ganz Schlimmes gewesen – und erst danach haben sie einen Groll auf den erwachsenen Partner entwickelt? Würde mal gerne wissen, ob die Forscher dazu was schreiben.

  3. Jahrelang musste man die EKD treten das sie sich überhaupt rührt. Ja, man will eine Studie machen hieß es und das war es auch. Nun hat man eine Studie in Auftrag gegeben und bewiesen das man eigentlich kein Interesse daran hat. Die Opfer sind egal, die Täter sind geschützt und das Thema ist hoffentlich vom Tisch.

    Hat die evangelische Kirche immer gesagt, dass sie anders als die katholische Kirche kein Problem mit dem Thema hat und nicht versteht, das so viele Menschen sie aus diesem Grund verlassen, müssen wir nun feststellen das genau das nicht stimmt. Die Katholiken machen viele Fehler bei dem Thema, aber sind bedeutend weiter und gründlicher und stehen auch dazu.

    Warum ist das nicht in der evangelischen Kirche der Fall?

  4. Wer Akten nicht herausgibt, nimmt billigend Missbrauch in Kauf und unterstützt diesen somit! Hier sollten die entsprechenden Personen entsorgt werden und auch sämtliche Versorgungsansprüche verlieren. Missbrauch sollte nirgendwo Unterstützung erhalten – auch nicht durch die Leitung der Landeskirchen. Hier ist die Landeskirche löblich zu erwähnen die vollumfänglich an der Aufarbeitung dieser Missbrauchsfälle die Akten zur Verfügung gestellt hat!!!

      • “ Hier sollten die entsprechenden Personen / entsorgt / werden und auch sämtliche Versorgungsansprüche verlieren. “
        `EinFragender `antwortet “ Absolut richtig! “

        Da haben sich zwei gefunden:-)
        Peter, das Wort “ entsorgen “ war doch hoffentlich nur ein eiliger Versprecher ?

        Wenn der Unterschied zwischen Oben und Unten in der EKD so gravierend ist, wie es die harsche Kritik der kleingläubigen Selbstgerechten vermuten lässt, wirft die Studie mehr Fragen auf.als sie beantwortet.

  5. Die Vorstellung der Studie läuft ja gerade auf Phönix. Ich hoffe, dass diese medial noch länger für alle verfügbar ist.

    Jeder, der auch noch irgendwie beschwichtigen will oder immer noch nicht verstanden hat, was dort für strukturelle Verbrechen begangen wurden, sollte sich das anschauen.

    Es wurde auch auf die auch hier insbesondere von einem User schon geschriebenen Beschwichtigungen wie ‚gesamtgesellschaftliches Problem‘ oder ‚alles Vergangenheit‘ eingegangen. Alles Ausreden, um sich damit nicht beschäftigen zu wollen. Es ist erfreulich, dass mit diesen Märchen hier deutlich aufgeräumt wurde.

    Genauso der Vergleich mit der katholischen Kirche und dass das in der EKD ja nicht so schlimm sein könne, weil man kein Zölibat hat, nicht diese Machtstrukturen usw. Alles widerlegt durch diese Studie. 2/3 der Täter in der EKD waren verheiratet.

    Genauso wie offengelegt wurde, dass sich die EKD in der Betreuung viel mehr um die Täter seelsorgerisch gekümmert hat als um die Opfer.

    Insofern: Kein Wunder, dass die EKD diese Studie so lange hinausgezögert hat und sie jetzt auch noch weitgehend behindert hat.

    Wie gesagt: Schaut Euch die Vorstellung des Gutachtens möglichst selbst an und bildet Euch selbst ein Urteil.

    • Zustimmung!
      Was ich mich frage: Das sind doch Christen und die wissen das man vor Gott nichts geheim halten kann. Und das Gott der eigentliche Richter ist. Oder?
      Warum nun diese Probleme?

      • ’nun‘?

        Das neue ist nicht der Missbrauch, das neue ist, dass das rauskommt und gesellschaftlich thematisiert wird.

        Das dürfte mit dem sinkenden Einfluss der Kirchen in der Gesellschaft zusammen hängen.

  6. Zum Glück kommt der Tag, an dem alle Akten geöffnet werden – Offb 20,11-13:
    „Dann sah ich einen Thron, groß, weiß, und den, der auf ihm sitzt. Vor dessen Angesicht flohen die Erde und der Himmel, und es wurde kein Platz für sie gefunden. Dann sah ich die Toten, die Großen und die Kleinen, vor dem Thron stehen, und Schriftrollen wurden geöffnet. Auch eine andere Schriftrolle wurde geöffnet, das ist die des Lebens. Und die Toten wurden gerichtet nach ihren Taten aus dem, was in den Schriftrollen geschrieben ist. Das Meer gab die Toten, die in ihm waren, heraus, der Tod und die Totenwelt gaben die Toten, die in ihnen waren, heraus, und sie wurden gerichtet, jeder nach seinen Taten.“

    • > Zum Glück kommt der Tag, an dem alle Akten geöffnet werden

      Noch ist der nicht da. Die EKD hält den Großteil der Akten weiterhin unter Verschluss.

      • Die Akten liegen in den Landeskirchen, nicht bei der EKD. Eine Landeskirche hat geliefert (eine der „Kleinen“, wo das zeitlich laut Angaben kein Problem war). Potenzielle Manipulation hat das Forscherteam im Einzelfall nicht ausgeschlossen, gezielte Verweigerung jedoch nicht wahrgenommen. Mehr als peinlich ist und bleibt es, denn bei der Studie zur KK 2018 haben die Bistümer die angeforderten Akten pünktlich geliefert. MfG, Daniel vom JDE-Team

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