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Scham: „Ein unerträgliches Gefühl mit Schutzfunktion“

Scham wird meist negativ bewertet, sagt der Theologe Christian Meier. Die positiven Aspekte würden dagegen übersehen.

Herr Meier, was ist das Thema Ihrer Arbeit, und wie sind Sie gerade auf dieses Thema gekommen?

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Christian Meier: Eine Frau suchte mich für ein Gespräch auf. Vorgängig wollte sie über den Kreuzestod von Jesus Christus sprechen. Bald wurde deutlich, dass sich dahinter eine andere Geschichte verbarg. Es ging um eine persönliche Schuldfrage, die sie seit vielen Jahren mit sich trug. Über vierzig Jahre konnte sie nicht darüber sprechen.

Ihr Lebensbezug veränderte sich drastisch. Innere Isolation wirkte sich auf das Lebensgefühl aus. Als im Gespräch die Scham betrachtet und angesprochen werden konnte, fing sie an, die ausweglose Situation zu verändern. Es war ein längerer Prozess. Tief berührt verstand ich damals, dass der Schamaffekt eine starke Kraft ausübt. Ein professioneller Umgang damit ist zentral. Solche Geschichten erlebe ich in meinem Berufsalltag immer wieder.

Die Schamerfahrung ist ein Moment schmerzhafter Selbsterkenntnis und Selbstentfremdung. Scham als hemmend für die eigene Entwicklung zu taxieren, würde dieser Emotion aber Unrecht tun. Keine andere Emotion prägt die Nähe und Distanz der zwischenmenschlichen Beziehung so stark. Die Emotion Scham ist archaisch mit unserem Sein verbunden und hat ihren Zweck. Deshalb ist eine negative Haltung gegenüber dieser Emotion zu hinterfragen. Scham ist nicht nur ein unerträgliches Gefühl, sondern sie hat auch eine Schutzfunktion.

„Nicht regulierte Scham kann nicht nur zu Rückzugstendenzen führen, sondern reduziert den Selbstwert kontinuierlich. „

Christian Meier

Schambehafteten Menschen droht die Gefahr, dass Scham übersteigert wird und zu dysfunktionalem Verhalten führt. Nicht regulierte Scham kann nicht nur zu Rückzugstendenzen führen, sondern reduziert den Selbstwert kontinuierlich. Ein Umgang mit der Scham zu finden, ist entscheidend, um Blockaden zu lösen. Diese Emotion zu regulieren, ermöglicht ein stabileres Arbeitsbündnis und Zugang zu tieferliegenden Schichten.

Seit vielen Jahren arbeite ich als Seelsorger im Kontext der Gemeindearbeit. Aus dieser Tätigkeit heraus entstanden grundlegende Fragen zum Thema Scham. Mein Dissertationsthema entspringt gänzlich aus der Praxis. Die Emotion Scham ist insofern interessant, als sie aus soziologischen, psychologischen und theologischen Aspekten betrachtet werden kann. Sie bilden eine spannende Schnittmenge, die wiederum für die Behandlung fruchtbar gemacht werden kann.

Wie sind Sie methodisch vorgegangen?

Meier: Meine Dissertationsarbeit befindet sich noch in der Anfangsphase. Gegenwärtig bin ich daran, die unterschiedlichen Bezüge zum Thema zu sichten. Es geht darum, eine breite Literaturübersicht im deutschsprachigen Raum zu erarbeiten. Ich frage mich dabei, was ein Theologiestudierender über diese Emotion erfahren kann. Bereits jetzt wird deutlich, dass die praktische Ausbildung wenig Bezüge anbietet. Die Forschung zu diesem Thema hat eine Relevanz.

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Weiter beschreibe ich die Schamtheorie. Dabei werden nicht nur phänomenologische und sprachliche Bezüge sichtbar gemacht, sondern auch entwicklungspsychologische Aspekte beschrieben. Scham wird bereits in der frühkindlichen Phase entwickelt und involviert deshalb psychoanalytische Themen.

Scham ist reflektiv. Sie führt unweigerlich in die Auseinandersetzung mit sich selbst. Scham ist nicht nur ein negatives Gefühl, sondern diese Emotion hat auch einen Schutzcharakter. Sich über Situationen zu schämen, ist ein Frühwarnsystem. Diese Psychodynamik ist wichtig und vermittelt diesem Affekt positive Aspekte.

Um eine Behandlung der Scham zu strukturieren, braucht es auch eine Unterscheidung zur Angst, zur Schuld und zur narzisstischen Kränkung. Scham und Schuld zu vermischen, würde bedeuten, dass sie gleichzubehandeln wären. Für die Praxis ist deshalb eine diagnostische Abgrenzung wichtig. So kann ein dysfunktionaler Umgang verhindert oder korrigiert werden.

Ziel ist es, eine schamsensible Seelsorge zu entwickeln. Deshalb drängt sich neben dem theoretischen Teil ein Praxisbezug auf. Das methodische Vorgehen ist noch nicht definiert. Ein mögliches Vorgehen könnte die Methode der Grounded Theory sein.

„Scham ist keine Schuld.“

Christian Meier

Welche drei zentralen Einsichten sind auch für Menschen interessant, die nicht mit der Thematik vertraut sind?

Meier: Erstens: Scham hat positive Aspekte. Sie schützt meinen Wesenskern vor unangenehmen Situationen. Dieses Frühwarnsystem wird aber oft übergangen.

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Zweitens: Scham ist keine Schuld. Zu schnell werden beide Emotionen miteinander vermischt. Schuld sagt etwas darüber aus, was ich falsch getan habe. Scham beschreibt einen Zustand: „Ich werde nicht gesehen.“ „Ich bin ungenügend.“

Drittens: Ein bewusster Umgang mit Scham stabilisiert den Umgang mit anderen Menschen. Weil ich die Scham kenne und wahrnehme, kann ich Situationen besser einordnen und bewusster agieren. Ich kann mich selbst schützen oder verletzende Situationen ansprechen.

Was hat Sie am meisten überrascht?

Meier: Mich überrascht, wie einseitig mit dem Schamaffekt umgegangen wird. Er wird mehrheitlich negativ bewertet. Die Schutzfunktion geht vergessen. Weiter frage ich mich, weshalb im Bereich der Pfarrausbildung so wenig über Scham vermittelt wird. Die Scham beeinflusst die Dynamik zwischen Menschen. Ihre Wirkung zu kennen und zu regulieren, verändert die seelsorgerliche Arbeit.

Worin besteht die Praxisrelevanz Ihrer Arbeit?

Meier: Die Relevanz dieser Arbeit zeigt sich darin, dass sie neben praktischen Bezügen einen fundierten Zugang zum Schamaffekt und auch einen professionellen Umgang mit dieser Emotion aufzeigen soll. Scham regulieren bedeutet, die Psychodynamik zwischen Nähe und Distanz zu gestalten. Wird die Scham nicht unterdrückt, sondern als Hinweis für relevante Themen akzeptiert, können beachtliche Fortschritte in der Lebensqualität von Seelsorgesuchenden erzielt werden. Ich blicke als systemischer Berater und Theologe auf dieses Phänomen.

Aus psychologischer Sicht möchte ich den Schamaffekt wesenhaft verstehen. Als Theologe frage ich mich: Welchen Beitrag leistet der christliche Glaube zu einer angemessenen Bewältigung der Schamrealität? Beide Bezüge sind relevant.

Was würden Sie gerne als Nächstes erforschen?

Meier: Gerade vertiefe ich mich in die entwicklungspsychologischen Aspekte der Scham und entdecke, wie prägend Scham für das Lebensgefühl sein kann. Dabei fällt mir auf, wie zentral der Umgang mit der Selbstgrenze ist. In einer grenzenlosen Gesellschaft, in der scheinbar alles möglich sein soll, wird das Thema Grenzen wiederum wichtig. Verzicht und Selbsteinschränkung erhöhen die Lebensqualität. Wie dies in unsere Lebenskonzepte integriert werden kann, interessiert mich besonders.

Vielen Dank für das Gespräch!

Die Fragen stellte Christof Klenk.

Christian Meier, geboren 1975, hat als Lehrer in Jerusalem, Thun und Bern gearbeitet. Er hat Theologie und Philosophie an der Universität in Bern studiert und wurde 2009 ordiniert. Er arbeitet als Pfarrer in der reformierten Kirche Gossau. Seit 2022 ist er Doktorand in Praktischer Theologie bei Prof. Dr. Ralph Kunz.


Ausgabe 3/23

Dieses Interview ist in P&S, Fachmagazin für Psychotherapie und Seelsorge, erschienen. P&S ist Teil des SCM Bundes-Verlags, zu dem auch Jesus.de gehört.

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4 Kommentare

  1. Am Ende wird alles gut

    Der Schamaffekt übt eine starke Kraft aus. Ein professioneller Umgang damit ist zentral. Dies trifft die Wahrheit in ihrem Zentrum. Ein zentrales Thema meines Lebens sind die unendlich vielen Nahtoderfahrungen von Menschen, die aus dem Sterbeprozess noch einmal zurück in dieses Dasein kamen. Viele beschreiben einen Lebenstraum, ein (gefühlt!) lebenslanges Nacherleben von negativen Ereignissen, Sünden, Lieblosigkeiten und nicht wenig auch Scheitern menschlicher Beziehungen. Gott selbst wird überstrahlend und unaussprechlich geschildert als unendlich große Wärme und Liebe ausstrahlendes Licht, welches aber nicht blendet. Sie berichten dann, dass offensichtlich Gott niemals eine Gardinenpredigt hält, böse bzw. zornig ist. Was durchgängig geschildert wird , wie das schlechte Gewissen – offensichtlich wir selbst uns – anklagt. Daher kommen alle verändert zurück. Wie die Jünger vom Berg der Verklärung, innerlich leuchtend, ohne Angst vor dem Tod und in der Erkenntnis, dass Gott wirklich eine unendliche Liebe, Barmherzigkeit und Gnade ist. Also ganz klar: Scham ist etwas Gutes, unser inneren Kompass und wenn ich bedenke was alles so fast automatisch an Gefühlen und Denkinhalten in mir abläuft, wobei Gott mich besser kennt als ich mich selbst, lässt mich dies ebenso schamhaft werden. Aber das macht ja den Unterschied aus: Bei Gott wird kein Gleiches mit Gleichem vergolten, kein“so mir so ich auch dir“, denn Gott liebte immer schon seine Feinde. Nur deshalb wurde er Mensch, an einem Kreuz für unsere Schuld gekreuzigt und wir freigesprochen: Wenn dies dann keine Scham auslöst, vor allem aber unendlich große Dankbarkeit, als keine große Befreiung erlebt wird, dann habe ich meinen Glauben nicht verstanden. Aber Gott erpresst keinen Menschen mit seinem Wissen über unser aller Abgründe. Er ist nicht unsere angstmachender und auch gnadenloser Oberstaatsanwalt, sondern er liebt gewissermaßen voraussetzungslos. Deshalb ist der 1. Korintherbrief des Paulus ein zentrales Glaubenszeugnis. Gott ist langmütig und freundlich. Er ist der absolut Gute. Er ist nicht wie ich. Allerdings in dieser Angelegenheit ist jede Scham ein Heilmittel. Ich muss erstens erkennen, dass ich immer ein Sünder bin und auch bleibe, es wird daher immer Scham geben (müssen). Und trotzdem ist jede/r von uns auch ein Freigesprochener, wobei Freispruch so etwas wie eine unendliche Freiheit bedeutet: Sie wirft mich nicht auf meine Unvollkommenheit zurück, sondern nur auf mein Geliebtsein im Himmel. Deshalb ist es Gott, der als Baby auf diese Welt kommt und dann später wie ein Verbrecher am Kreuz hingerichtet wird, die aller größte Liebesbezeugung, die es im Universum gibt. Aber daher muss ich mich nicht nur schämen, sondern darf entsprechend sehr dankbar sein. Die Werke von uns Christinnen und Christen sollen aber eben aus jener Dankbarkeit kommen, aber nicht aus dem Versuch, sich Gott gnädig zu stimmen. Nach Martin Luthers Erkenntnis war Gott schon gnädig mit uns, als wir noch nicht auf Erden waren. Wir können daher niemals ins Bodenlose fallen, denn er Gott der Liebe schenkt uns Vergegung voraussetzungslos. Denn am Ende des Lebens richtet Gott jeden Menschen, der je lebte, nur mit den Mitteln der Liebe. Denn das eigentliche Gericht war das Kreuz und dort sind wir auf Vertrauen(svorschuss) hin freigesprochen. Deshalb konnte auch aus Saulus ein Paulus werden, denn an seinen vorherigen Werken gemessen hätte er die Jesusbegegnung vor Damaskus nicht verdient. Der Schächer am Kreuz verdiente nicht das von Jesus versprochene Paradies. Am Ende kommt niemand an Gott vorbei. Deshalb sind auch im Prinzip Märchen Träger ebenfalls der Botschaft: „Am Ende aber wird alles gut“. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann sie noch heute. (Wohl eher ein märchenhafter leicht ironischer Schluss-Satz).

  2. Ich könnte Herrn Meier so einiges zur Scham sagen. Erstmals trat sie bei mir in der Pubertät auf und sie hat mich vernichtet: https://www.academia.edu/88153640/Gottes_verpasste_Chancen_ Deshalb ist es mir so wichtig geworden, dass immer mehr Menschen die tieferen Ursachen alles Geschehen auf Erden und im Menschenleben verstehen lernen und nicht bei den oberflächlichen Antworten bleiben. Ich selbst konnte mich erst dann richtig mit meinem Schicksal und mit Gott versöhnen, nachdem ich die Wahrheiten erkannte.

  3. Ich empfinde Scham -sich für etwas zu schämen, als etwas“was Andere nicht sehen sollen. oder dürfen….wo ich mich schäme, etwas von mir Preis zu geben, was für mich selbst beschäment wäre….aber vielleicht nicht für einen Menschen, dem ich vertraue.
    Das Schamgefühl ist immer mein Eigenes, denke ich.
    Es ist mir etwas sehr unangenehm….
    Ein Schutz-JA! Ganz klarer Selbstschutz….
    Aber auch etwas, was an mir „nagen“ kann…weil es etwas ist, was ich nicht teilen kann oder möchte….
    das kann ja Vieles sein…..Schulden können auch ein Schamgefühl auslösen….oder Unordnung….oder…oder….
    „etwas Verborgenes“ nicht teilen oder zeigen zu wollen.
    Angst zu haben….
    Ich finde „Scham“ hat und kann viele Gesichter haben!
    Und ist nicht gut!
    Für einen Selbst…weil es zutiefst quälen und Einengen kann in der eigenen Freiheit und Persönlichkeit.

  4. @C.Meier

    zu „Scham beschreibt einen Zustand: „Ich werde nicht gesehen.““

    Ob das stimmt?
    Eher das Gegenteil! „Hilfe, ich fuehle, als ob alle auf mich starren, weil ich denke, dass ich ungenuegend bin.“

    Vielleicht kommt es aus einer (schlechten) Uebersetzung aus dem englischen?

    Scham [engl. shame], , ist eine neg. Emotion, die entsteht, wenn man das Gefühl hat, best. Werten, Normen, Regeln oder Ansprüchen nicht gerecht geworden zu sein. Sie geht mit physiol. Reaktionen wie Erröten und mit charakteristischen Verhaltensweisen einher, die dem Wunsch entspringen könnten, SICH UNSICHTBAR ZU MACHEN (dorsch.Hogreve.com).

    Shaw bringt den positiven Aspekt von Scham auf den Punkt:

    „Je mehr ein Mensch sich schämt, desto anständiger ist er“. George Bernard Shaw (Zitat gelesen bei: Stangl.eu)

    LG Joerg

    PS: meine pers. Erfahrung: die meisten schaemen sich zu schnell (zB was sie meinen/denken/glauben auszusprechen)?
    Aber vielleicht bin ich auch zu unanstaendig? 🤷‍♀️

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