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Zwangsprostitution: Auf der Suche nach dem Ausweg

Im Kampf gegen Zwangsprostitution in Deutschland favorisieren Evangelische Allianz und Terre des Femmes ein Sexkaufverbot („nordisches Modell“). Kritiker sagen: Dann wird alles noch schlimmer. Eine Bestandsaufnahme.

Von Pascal Alius

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Maria [Name geändert; Anm. d. Red.] würde gerne aufhören, kann es aber nicht. Das klingt nach Sucht, ist es aber nicht: Maria arbeitet seit acht Jahren – mit kurzer Unterbrechung – als Prostituierte. Inzwischen ist sie 27. Sie wuchs in Ungarn auf, hat in jungem Alter Kinder bekommen und ist seitdem alleinerziehende Mutter. Aus diesem Grund musste sie früh anfangen zu arbeiten. Ohne Hochschulabschluss fand Maria jedoch keine Arbeit, die ausreichte, um ihre Familie finanziell zu versorgen. Durch eine Freundin hörte sie von der Möglichkeit, in Deutschland als Prostituierte zu arbeiten. Auf der Straße lernte sie einen Zuhälter kennen und geriet in eine Beziehung mit ihm. Ihre Familie in Ungarn weiß nicht, was sie in Deutschland macht. Das alles erzählt Emily LaBianca. Sie leitet das Projekt Alabaster Jar in Berlin, welches zur christlichen Hilfsorganisation Samaritan’s Purse gehört. Dort wird Frauen geholfen, die in der Prostitution arbeiten.

Maria ist kein Einzelfall. Schätzungen zufolge sind 60 bis 80 Prozent der Prostituierten in Deutschland migrantisch, sagt Nathalie Eleyth. Ein Großteil komme aus Osteuropa. Eleyth forscht an der Ruhr-Universität Bochum zu Prostitution und ist Mitglied der Gesellschaft für Sexarbeits- und Prostitutionsforschung (GSPF). Verbreitete Schätzungen in Politik und Kirchen beziffern die Zahl der Prostituierten in Deutschland auf 200.000 bis 400.000 Prostituierte. Die CDU-Politikerin Dorothee Bär sprach im September 2023 bespielsweise von etwa 250.000 Prostituierten.

Noch eine zweite Zahl wird diskutiert: Wie hoch ist der Anteil der Frauen, die unter Zwang arbeiten? Schätzungen bewegen sich im Bereich zwischen 80 und 95 Prozent. Diese oft genannten Zahlen zur Ausbeutung gehen beispielsweise auf eine Studie der US-Amerikanerin Melissa Farley aus dem Jahr 2004 zurück. Dafür wurden rund 850 Frauen interviewt, etwa 50 davon aus Deutschland. Auch Kriminalbeamte und manche Insider schätzen, dass in neun von zehn Fällen Zwangsprostitution vorliegt.

Wie belastbar sind die Zahlen?

Eleyth hält die genannten Zahlen für unseriös. Der Wert 400.000 zirkuliere unverändert schon seit den 80er-Jahren. Diese Zahl sei vermutlich von Prostituierteninitiativen eingebracht worden. Und Farley gebe laut Eleyth selbst zu, dass ihre Zahlen zur Ausbeutung nicht repräsentativ seien. Denn: Die interviewten Frauen stammten überwiegend aus Ausstiegsprojekten. Zuverlässige Zahlen gebe es bislang nicht, so Eleyth. Erhebungen im großen Stil seien nie durchgeführt worden. Das sei auch schwierig, da Prostitution ein mobiles Gewerbe sei. Die Kritische Sexarbeitsforschung schätze die Zahl der Prostituierten in Deutschland vorsichtig auf 64.000 bis 150.000. Offiziell gemeldet waren Ende 2022 exakt 28.280 (Quelle: Statistisches Bundesamt).

Und wann genau liegt Ausbeutung bzw. Zwangsprostitution vor? Laut Strafgesetzbuch ist es Menschenhandel, wenn die Zwangslage oder Hilflosigkeit einer Person ausgenutzt wird, um sie zur Prostitution zu zwingen und sexuell auszubeuten. Aber wer entscheidet, wann eine Frau tatsächlich sexuell ausgebeutet wird? Maria würde von sich selbst nicht sagen, dass sie in der Zwangsprostitution steckt – LaBianca als Beobachterin dagegen schon. Sie wirft auch ein, dass es ja nicht nur persönliche Zwänge durch andere Menschen gebe, sondern auch strukturelle.

“Geht’s noch?” – Kritik am Prostituiertenschutzgesetz

Auch Maria hat ihr Gewerbe nicht offiziell angemeldet. Dies würden zwar inzwischen mehr Frauen tun, aber weniger als die Hälfte, schätzt LaBianca. Dabei verpflichtet sie das Prostituiertenschutzgesetz seit 2017 eigentlich dazu. Dieses Gesetz soll dem Schutz von Sexarbeitenden dienen und kriminelle Strukturen beseitigen. Dazu gelten folgende Regeln: verpflichtendes Anmeldeverfahren und gesundheitliche Beratung, Pflicht zum Mitführen einer Anmeldebescheinigung, Kondompflicht und andere Pflichten wie Notfallknöpfe und getrennte Toiletten für Kunden und Sexarbeitende. Die Auswertung des Gesetzes hat im Juli 2022 begonnen und soll dem Bundestag 2025 vorliegen. Schon jetzt gibt es Kritik.

Betroffene kritisieren vor allem die Anmeldepflicht plus die Pflicht zum Mitführen eines umgangssprachlich so genannten “Hurenpasses”. Dazu gehört auch Jay, die als Escort und Sexarbeiterin im Fetischbereich arbeitet. “Eine Anmeldepflicht, bei der ich meinen richtigen Namen preisgeben muss, ist ein Risiko”, sagt Jay. “Sexarbeit lebt von Diskretion und Anonymität.” Vor allem so lange in der Gesellschaft Prostitution stigmatisiert und diskriminiert werde. Viele migrantische Personen würden darauf verzichten sich anzumelden, da sie beispielsweise keinen legalen Aufenthaltsstatus haben. Die strengen Auflagen für Bordelle findet Jay dagegen gut. Allerdings versteht sie nicht, wieso schon eine WG mit drei Sexarbeiterinnen als Bordell gilt. Diese Kleingewerbe könnten die Auflagen kaum erfüllen. “Geht’s noch? Solche Räume, in denen wir gemeinsam arbeiten, sind wichtige Schutzräume. Das Gesetz nimmt uns diese”, sagt Jay.

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Was macht den Ausstieg so schwierig?

Maria kehrte am Anfang der Corona-Pandemie nach Ungarn zurück. Den Kontakt zu ihrem Zuhälter brach sie ab. In der Heimat schaffte Maria es jedoch nicht, das nötige Geld zu verdienen, um ihre Familie zu ernähren. Deshalb kehrte sie wieder nach Deutschland in die Prostitution zurück. Auch weil Maria ihr Zuhälter nicht aus dem Kopf ging: “Ich wusste in meinem Kopf, dass es keine gute Beziehung war, aber mein Herz wollte zurück”, zitiert LaBianca sie. Der Verein Alabaster Jar hilft den ausstiegswilligen Frauen mit Jobcenter, Bürokratie und Papierkram – und vermittelt sie gleichzeitig an Partnerorganisationen weiter. Die meisten Betroffenen können nämlich kaum Deutsch – so auch Maria. Und: Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ermutigen die Frauen. Ein Ausstieg koste die Frauen große Überwindung. Streetworkerin Katja Ryzak vom Verein Hope aus Heilbronn bestätigt das. Hope hilft wie Alabaster Jar Prostituierten beim Jobwechsel. “Nach längerer Zeit in der Prostitution hören die Frauen auf, eine Perspektive, einen Traum zu haben und an sich zu glauben”, sagt Ryzak.

Strukturelle Zwänge seien dabei bedeutsamer als persönliche Gewaltausübung, schreibt die Gesellschaft für Sexarbeits- und Prostitutionsforschung. Zu diesen Zwängen gehören: Migrationsgesetze, immer weniger sozialstaatlich abgefederte Zwänge des Arbeitsmarkts, Diskriminierung auf Wohnungs- und Arbeitsmärkten, Kriminalisierung von Drogen, Sozialstaatsauschlüsse, ausgeweiteter Druck zur Arbeitsaufnahme und die Ausweitung von Niedriglohn in Folge der Hartz-Reformen sowie Wohnungs- und Obdachlosigkeit. Konkret zum Beispiel: Schulden durch Geldstrafen, hohe Nachzahlungen für Krankenversicherung, wenn zeitweise keine Mitgliedschaft bestand, und fehlende Ansprüche von EU-Migrantinnen auf Arbeitslosengeld.

“Sozialer Tod”

Viele der Frauen wohnen in Hotels, erzählt LaBianca. Sie würden keine Wohnung finden, da sie dafür eine “richtige” Arbeit nachweisen müssten. Aber für die Arbeit müssten sie an einem Wohnort gemeldet sein. Ein Teufelskreis. Auch Ryzak sieht darin und in der Drogensucht die größten Probleme. “Die Frauen wissen, dass wenn sie die Prostitution verlassen, kein Geld mehr haben, um sich die Drogen zu finanzieren.”

“Die Drogensucht war eines meiner größten Probleme”, bestätigt Sarah. Sie arbeitete zehn Jahre lang als Prostituierte. Im dritten Anlauf schaffte sie den Ausstieg – dank Hope. Zuvor hatte Sarah auch schlechte Erfahrungen mit der Polizei und Ämtern gemacht. Wenn sie gegenüber der Polizei erlittene Gewalt angesprochen habe, hätten die ihr nie irgendwelche Hilfsangebote genannt. “Ich konnte noch nicht mal bei Ämtern anrufen, weil ich so Panik davor hatte, dass die mich in eine Schublade stecken und mich nur als Prostituierte ansehen.”

Prostituierte werden von allen Seiten verachtet.

Farley beschreibt diesen Zustand als “sozialen Tod”. Prostituierte würden von allen Seiten verachtet – auch von Freiern und Zuhältern. Dies resultiere in einem Selbsthass, der lange anhalte und sich schwer ändern lasse. Die Prostituierte fühlt sich dadurch als Außenseiterin, “die weder Ehre noch sozialen Wert besitzt”.

Nathalie Eleyth hat zur Prostitution in biblisch-theologischer Perspektive promoviert. Sie warnt davor, Moralität und Legalität gleichzusetzen. Und: In der Bibel würden „Huren“ bzw. sexualmoralisch anstößige Frauen wie Rahab und Ruth als Gerechte und Glaubensvorbilder bezeichnet und im Stammbaum Jesu namentlich genannt.

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“Gesetze allein reichen nicht”

Die Probleme sind deutlich, aber was tun? Die GSFP schlägt vor, die Lücken der sozialen Sicherungssysteme zu schließen. Migrantinnen sollten zum Beispiel einfacher Zugang zu Arbeitslosengeld und Krankenversicherung bekommen. Opfer von sexueller Gewalt sollten nicht abgeschoben werden. Gerade für Migrantinnen sei es wichtig, einfach und kostengünstig Zugang zum Gesundheitssystem zu erhalten, sagt Eleyth. “Gesetze allein reichen nicht. Es braucht finanzielle Ressourcen für entsprechende Fachberatungsstellen” – und auch für die Polizei sowie Hilfs- und Umschulungsangebote. Zudem müsste die Stigmatisierung von Prostituierten enden. Das erschwere den Ausstieg in allen Aspekten.

Frank Heinrich von der Evangelischen Allianz in Deutschland (EAD) und vom Verein „Gemeinsam gegen Menschenhandel“ nickt bei allen Punkten. Aufklärung, Ausbildung, Ausstiegshilfen, Entkriminalisierung? Amen dazu. Ihm ist klar: Ohne Hilfe geht nichts. Einziges Problem: Diese Veränderungen dauern ihm zu lang. “Bis das in Gesetze gegossen wurde, sind weitere 100.000 Frauen vor die Hunde gegangen”, sagt Heinrich. Deshalb wünscht er sich das nordische Modell (oft auch „Gleichstellungsmdell“ oder „schwedisches Modell“).

Das schwedische Modell

In Schweden wurde 1999 per Gesetz ein Sexkaufverbot erlassen. Dadurch handeln nicht die Prostituierten illegal, sondern die Freier. Aber was ist mit den Prostituierten, die diese Tätigkeit selbstbestimmt ausüben wollen? Befürworterinnen und Befürworter des norischen Modells argumentieren: Um eine große Mehrheit zu schützen, nehmen wir den Schaden einer privilegierten Minderheit in Kauf.

Gewalt und Ausbeutung sind eine reale Gefahr für Prostituierte, darin sind sich Gegner und Befürworter des nordischen Modells einig. Was Maßnahmen betrifft, um Zwangsprostitution zu verhindern, gehen die Vorstellungen kaum auseinander. Mit dem Prostituiertenschutzgesetz sind beide Seiten aus verschiedenen Gründen unzufrieden. Doch am nordischen Modell schieden sich die Geister. Hier kommt noch eine Säule dazu: die erwähnte Freierbestrafung. Damit wird der Kauf von Sex illegalisiert, aber nicht das Anbieten. Befürworter dieses Modells erhoffen sich dadurch, dass die Nachfrage sinkt und dadurch weniger Frauen neu in die Ausbeutung rutschen. Zudem zielen sie auf einen langfristigen Bewusstseinswandel im Umgang mit Frauen ab.

Die Gegner wenden ein: Statt Hilfsangebote für Prostituierte aufzustocken, würden laut Stellungnahme der GSPF für den Bayerischen Landtag Angebote und Stellen reduziert. “Menschenhandel zu bekämpfen hat in Deutschland überhaupt keine hohe politische Priorität”, sagt Eleyth. “Es sind noch gar nicht alle Möglichkeiten jenseits von Verboten ausgeschöpft.” Gegen Gewalt und Menschenhandel gebe es bereits Gesetze, heißt es in einem Positionspapier der Diakonie.

Scharf kritisierte Auswertung

In Schweden begann 2008 begann eine Auswertung der Folgen des Sexkaufverbots, die 2010 veröffentlicht wurde. In diesem Bericht heißt es, dass die Straßenprostitution um 50 Prozent zurückgegangen sei. Das Gesetz wirke abschreckend auf Käufer. Das Angebot sexueller Dienstleistungen übers Internet habe zugenommen, die Prostitution sei nicht in den Untergrund abgewandert. Das Verbot diene als Barriere für Menschenhändler und Zuhälter. In Schweden gebe es deshalb weniger Menschenhandel als in vergleichbaren Ländern. So weit, so gut.

Die Analyse wird jedoch in mehrerlei Hinsicht kritisiert. Der Vorwurf: Sie könne wissenschaftlichen Kriterien nicht standhalten. Schweden habe vor 1999 gar keine Zahlen zur Prostitution erhoben. Wie wolle man also wissen, ob sich die Situation verbessert habe? Zudem wird auf die negativen Konsequenzen der Freierbestrafung hingewiesen. Das Positionspapier der Diakonie („Warum sich die Diakonie Deutschland gegen ein »Sexkaufverbot« einsetzt“) nennt 134 Studien, die die negativen Folgen einer repressiven Gesetzgebung bestätigten.

“Die Sicherheitslage von Sexarbeiterinnen hat sich dramatisch verschlechtert”

Nathalie Eleyth (Ruhr-Uni Bochum)

Das Gesetz habe das soziale Stigma von Sexarbeit verschärft, lautet die Kritik. “Denn auch wenn nur der Sexkauf verboten wird, so wird damit dennoch ein generelles sozialethisches Unwerturteil über Sexarbeit gesprochen”, sagt Eleyth. Außerdem sei von einem Anstieg von Gewalt auszugehen – durch Polizei und Freier. “Die Sicherheitslage von Sexarbeiterinnen hat sich dramatisch verschlechtert.”

Eine Untersuchung von Amnesty International Norwegen weist in die gleiche Richtung. Polizeiliche Repressionen träten häufiger auf. Und: Der Kundenkontakt werde riskanter. Da die Freier eine Strafe fürchten, müsse alles schneller verlaufen. Dadurch bleibe keine Zeit mehr, um über den Preis zu verhandeln und die Kunden auf ihr Gewaltpotenzial hin abzuchecken. Die Macht der Freier wachse durch das Sexkaufverbot sogar. Denn die Sexarbeiterin sei ja auf Kunden angewiesen. Zudem würden Freier Zwangslagen einer Sexarbeiterin nicht mehr melden, gibt Jay zu bedenken. Denn dadurch würden sie eine Straftat gestehen.

Das Fazit der Kritiker: Die Freierbestrafung führe genau zu dem, was sie eigentlich vermeiden wolle. Nämlich mehr Gewalt. Das nordische Modell schade denjenigen denen es helfen wolle am meisten: den Prostituierten. Hilfe für sie werde an die Bedingung geknüpft, die Prostitution zu verlassen. Als in Schweden 2009 Sozialarbeiterinnen Kondome kostenlos an Prostituierte verteilten, war der empörte Aufschrei riesig. Ziel des schwedischen Modells ist es faktisch, Prostitution abzuschaffen. Hier wird deutlich, dass die Menschenbilder von Befürwortern und Gegnern des nordischen Modells sich grundsätzlich unterscheiden; auch wenn bei den Maßnahmen durchaus Gemeinsamkeiten bestehen.

“Prostitution macht krank”

Frank Heinrich sieht Sex für Geld grundsätzlich als Gewalt an. “Was für ein Menschenbild wird denn da vermittelt, wenn ich eine Frau kaufen kann.” Das sei eine fatale Botschaft und widerspreche dem christlichen Menschenbild. In einer Stellungnahme Die Würde der Frau ist unverkäuflich schreibt die Evangelische Allianz (EAD): „Gott schuf dem Menschen zu seinem Ebenbild (1. Mose 1,27). Ausnahmslos jeder Mensch hat Anteil an der gottgegebenen Würde.“ Diese Würde sei unantastbar, werde aber durch Prostitution verletzt. Frauen würden dadurch zur Ware degradiert. Und weiter: „Männer haben kein Recht, Frauen zu kaufen.“ Das verhindere die Gleichstellung der Geschlechter. Zudem kritisiert die EAD, dass moderne Sklaverei gegen Gottes Willen verstoße, der den Menschen in Freiheit erschaffen habe (1. Mose 1,28).

Die Psychotherapeutin Ingeborg Kraus steht auf der gleichen Seite wie die EAD. “Prostitution macht krank”, sagt sie. “Das ist kein Beruf wie jeder andere.” Deutlich mehr als die Hälfte (67 Prozent) aller Prostituierten würden traumatisiert. Diese Zahl stammt wie die Zahl zur Ausbeutung von Melissa Farley. In einer anderen Studie mit 210 Traumatherapeutinnen und -therapeuten ist von über 30 Prozent die Rede. Solche Zahlen kenne man sonst nur von Folteropfern oder Soldaten, sagte die Sozialethikerin Elke Mack gegenüber dem evangelischen Magazin chrismon.

Prostituierte entwickeln laut Kraus Schutzmechanismen, um überleben zu können. So würden sie ihre Körperempfindung abschalten. Sophie Hoppenstedt bestätigt das. Sie arbeitete jahrelang als Prostituierte. Sie sagt: “Bei der Prostitution gab es so einen Schalter in meinem Kopf, der meine Gefühle abgeschaltet hat. Ich habe einfach funktioniert, wie ein Roboter. […] Ich habe alles wie durch Watte wahrgenommen. Meine körpereigenen Mechanismen haben mich betäubt, teilweise natürlich auch die Drogen.” Erst als sie aus der Prostitution raus war, habe sie gemerkt, wie übel diese Zeit gewesen sei und wie stark es sie traumatisiert habe.

“Je offener die Strukturen und der Umgang mit Sexarbeit sind, desto weniger Raum bleibt für illegale Machenschaften.”

Domina Baroness Babalon

Die Gegenseite wendet ein: “Dass Sex Arbeit sein kann, ist für viele undenkbar, da sie von sich auf andere schließen und sagen: Das könnte ich nie”, meint die Prostituierte Jay. Eleyth kritisiert, dass vor allem Frauen of Color und mit Migrationshintergrund vorschnell als Opfer gesehen werden. “Können die nicht selbstbestimmt in der Prostitution sein?” Jay betrachtet ihren Job als “emotionale Care-Arbeit“. Sie helfe Menschen, indem sie Intimität und Nähe anbiete. Dadurch ermögliche sie es Menschen, ihre Bedürfnisse auszuleben, ihr Wohlbefinden zu steigern und “einfach mal loszulassen”.

Die Domina Baroness Babalon hält es für kaum möglich, Menschenhandel und Zwangsprostitution zu beenden. Beim weltweiten Drogenhandel funktioniere das trotz hoher Strafen nicht. Es sei einfach zu lukrativ. Sie meint: “Je offener die Strukturen und der Umgang mit Sexarbeit sind, desto weniger Raum bleibt für illegale Machenschaften.” Studien aus den USA, Kanada und Uruguay zur Cannabislegalisierung zeigen, dass der Schwarzmarkt zwar schrumpft, aber nicht verschwindet. Allerdings ermögliche die Legalisierung bessere Prävention und Qualitätskontrollen. “In einem legalen Markt kann man die Leute ganz anders ansprechen und über Risiken aufklären”, sagt Suchtforscher Heino Stöver.

LaBianca sieht das anders. Die Legalisierung würden es Zuhältern und Menschenhändlern viel leichter machen, Frauen auszubeuten. Sie könnten die Frauen offen auf der Straße überwachen. Die Polizei könne nichts tun, außer eine Frau sage, dass sie Opfer von Menschenhandel sei. Dazu sind jedoch die meisten laut LaBianca aus Angst oder Manipulation nicht in der Lage.

Alle wollen helfen – aber wie?

Gegner des nordischen Modells setzen auf das Modell der Schadensbegrenzung. Das entwickelten Drogenkonsumenten, AIDS-Aktivisten und Sozialarbeiterinnen und -arbeiter in den 1980er-Jahren. Dieses Denkschema nimmt zur Kenntnis, dass Sexarbeit existiert und sich daran auch nichts ändern lässt. Vielmehr geht es darum, Risiken und Gefahren zu minimieren. Sexarbeit wird dabei nicht verdammt oder verurteilt. Stattdessen wird anerkannt, dass es sicherere und weniger sicherere Varianten davon gebe. Hilfe wird im Gegensatz zum schwedischen Modell nicht an die Bedingung des Berufswechsels geknüpft. “Angebote werden eher in Anspruch genommen, wenn sie freiwillig, niedrigschwellig, anonym und in verschiedenen Sprachen sind”, sagt Eleyth. Werden neue Hilfsangebote und Gesetze geschaffen, sind Betroffene am Prozess beteiligt.

Niemand leugnet die Probleme. Den Frauen helfen wollen alle. Aber über das „wie“ herrscht weiter Uneinigkeit – bis in kirchliche Werke und Instanzen hinein. Zu den Unterstützern des schwedischen Modells zählen unter anderem die Evangelische Allianz in Deutschland (EAD), die Frauenrechtsorganisation Terre des Femmes, Frauenrechtlerin Alice Schwarzer, die Evangelische Landeskirche in Württemberg und der Gnadauer Verband. Dagegen sind unter anderem die Diakonie, Amnesty International, die Deutsche Aidshilfe, der Deutsche Frauenrat und der Deutsche Juristinnenbund. Allein das zeigt, wie komplex das Thema ist.

Am Ende geht es nicht um Zahlen, sondern um die Schicksale von Menschen. Maria möchte noch einmal den Ausstieg versuchen. Für sie bleibt es ein harter und schwieriger Weg.

Was können Christinnen und Christen tun, um Frauen in solchen Notlagen zu helfen? In Stuttgart zum Beispiel gibt es im Rotlichtviertel das Hoffnungshaus in christlicher Trägerschaft.

HOFFNUNGSMENSCH: Steffen Kern spricht mit Wilbirg Rossrucker, Leiterin des Hoffnungshauses im Stuttgarter Rotlichtviertel.

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5 Kommentare

  1. Ich möchte Euch danken für diesen Artikel. Es kommt selten vor, daß unterschiedliche Standpunkte so gut dargestellt werden

  2. Ich denke, die Rechte der Zuhälter müssen hinterfragt und ihre Quellen ausfindig gemacht werden. Die Frauen machen ja nichts falsch, sie versuchen aus einer Notsituation das herauszuholen, was ihnen möglich ist. Ein System, das Kriminalität in ihrer Struktur nicht verhindern kann zeugt nicht von sozialer Kompetenz, geschweige denn einer Ethik, die sich auf den Menschen und seine Würde durch das System ausrichtet.

    Wir, unser Land hat ein Problem mit seiner Rechtswirksamkeit, denn die ist von tragender Bedeutung für kranke Strukturen. Einig sind wir uns wohl darüber, dass nicht die Prostituierte das Problem ist, sondern Menschen, die von kriminellen Verbindungen mehr profitieren, als sie es als gesetzestreue Bürger je könnten.

    Wie kann also ein Rechtssystem die Wirkkraft entfalten, die sich aus Tatbeständen ergibt, deren Auftreten dem menschlichen Sozialverständnis im Grundsatz widerspricht?

    Menschen wollen nicht zwangsprostituiert werden, doch es ist eine Möglichkeit, sich verzweifelt mit der Kompetenz auseinanderzusetzen, die sich dahinter verbirgt. Lebenskompetenz und ihre Resilienz sind nichts, was es zu verachten gilt und auch nichts, was vergewaltigt werden kann. Sie sind, was systemisch gefördert wird, indem ihr Einsatz von einer Würde getragen ist, die sich ihrer Pflicht im Umgang mit der Sozialisation bewusst ist, die sich aus der Verantwortung eines Menschen ergibt.

    Bis kriminelle Verbindungen durch die Würde, die jedem Menschen unterstellt ist, ihren Anspruch auf ein Rechtssystem verlieren, da sie innerhalb seiner Strukturen keine Legitimation besitzen, die einen Rechtsanspruch ergibt, wird es auch Opfer geben, die zwar die Würde als Mensch tragen, ihrem Leben jedoch keine Rechtswirksamkeit abgewinnen können.

  3. Sozialer Tod von Menschen

    Dass Problem der sogenannten Sexarbeiter:innen lässt sich durch zwei Stichworte zusammenfassen: Es sind 1) DIE SOZIALEN ZWANGSLAGEN, in denen sich viele der geschätzten 200.000 bis 400.000 Prostituierten in Deutschland befinden. 2) Die SOZIALE ÄCHTUNG (eher schon der soziale Tod dieser Menschen) hat sehr viele Schuldige bzw. Verursacher, aber nicht nur die halbillegalen und illegalen Strukturen (Bordelle, Zuhälter oder auch die Motivation für Missbrauch von Menschen durch Pornografie), sondern jeden Einzelnen von uns. Denn wir ächten nicht was Menschen tun oder angetan wird, sondern (eher unbewusst) diese Menschen selbst. Dabei ist auch die Prostitution schon viele Jahrtausende alt. Jesus hat sich mit verschiedenen Arten der Ächtung von Menschen, sie nicht als Menschen und auch eher etwas schmutziges zu betrachten, nicht philosophisch oder moralisch und schon gar nicht akademisch auseinander gesetzt. Sondern mit Betroffenen am Rande der Gesellschaft Tischgemeinschaft gepflegt. Dabei hat er sie sicher nicht ermuntert, weiterhin versklavt zu sein, oder zudem etwas für sie selbst destruktives zu tun, sondern ist ihnen einfach nur wertschätzend begegnet. Damit will ich auch ausdrücken: Gott lieben jeden einzelnen Menschen. Er sieht niemand als verdorben an, sondern als Kranker und Erlösungsbedürftiger. Dass vor vielen Jahren einmal Kirchenleitende und Bischof mit Sexarbeiterinnen am Heiligabend christlich feierten, war eine gute symbolträchtige Angelegenheit. Sie aber wie alle anderen Menschen anzusehen wäre noch erforderlicher und revolutionär in christlicher Liebe, ohne fromme Schnörkel. Erst wenn Sexarbeitende so normal sind wie der Müllmann, der Postbote, mein Arzt, der Psychologe oder Lieschen Müllersind, dann würden wir in einer anderen Welt leben. Aber dann würde Prostitution austrocknen, weil es keine Opfer mehr gibt.

    Beim theoretischen Problem neige ich zu der Überzeugung, dass mehr oder weniger die Prostitution eine wirkliche Versklavung darstellt ,auch wenn Betroffene nicht unmittelbar dazu gezwungen werden. Hier bin ich der Auffassung, die Benutzung von Menschen zur eigenen Befriedigung (was man normalerweise als Missbrauch verstehen müsste) unter Strafe zu stellen – aber nicht die Tätigkeit der Sexarbeiter:innen. Denn entweder ist etwas für die Gesellschaft, sowie alle Opfer, wirkliche seelische Beschädigung und damit der Würde der Menschen: Oder dies wäre nicht so. Die Freiheit über den eigenen Körper zu verfügen und/oder verfügen zu lassen, kann und darf nur völlig unentgeltlich sein und ohne jeglichen Zwang . Ein Problem sei aber hier genannt, nämlich jenes einer Nichtkontrollierbarkeit. Moralisch über die allermeisten Prosituierten zu fabulieren ist wenig hilfreich, weil wahrscheinlich kaum Betroffene einen Beruf ausüben, der kreativ ist und Freude macht. Wirkliche Freunde und Freundinnen dürfte man dabei auch kaum gewinnen.

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